Unterm Kirschbaum
unseren Fritz hat das Suspensorium noch lange nicht den richtigen Sitz.‹ Er hatte nämlich – wie sagt man – ein gewaltiges Gekröse, aber immer viel zu knapp geschnittene Hosen an. Nicht der Mädchen in der Klasse wegen, sondern der Jungen … Und das zu Zeiten des Paragrafen 175.«
Mannhardt weitete das Loch im Zaun, indem er ein paar Latten zur Seite drückte.
Sie kamen ohne Mühe in den Vorgarten. Der Rasen war offenbar seit Jahren nicht mehr gemäht worden, die Hecken hatte niemand beschnitten, und erst recht nicht die Algen mit einem Hochdruckreiniger vom Mauerwerk entfernt. Im Souterrain und im Parterre waren alle Fenster mit Brettern vernagelt, im ersten Stock erblickten sie eine Reihe zerdepperter Scheiben. An einigen Stellen war der Putz in großen Brocken von der Wand gefallen. In der Dachrinne wuchsen kleine Birken. Der Transparentkasten mit dem Namen des Restaurants war weithin zertrümmert worden, sodass nur noch ›a la … car…‹ zu lesen war, als würde es sich hier einmal um ein Autohaus gehandelt haben.
»Vom Schmuckstück zum Schandfleck«, stellte Mannhardt fest.
»Der Clou wäre natürlich, wenn wir hier eine Leiche finden würden«, sagte Orlando. »Eine, die uns dann den wahren Mörder finden lässt.«
»Das ist hier nicht der Tatort Tegel.« Mannhardt meinte damit die alljährlich stattfindende Reinickendorfer Kriminacht in der Humboldt-Bibliothek am Hafen.
Orlando lachte. »Die ganze Welt ist ein einziger Tatort.«
Mannhardt hatte durchaus die Absicht, in die verlassene Villa einzudringen und sich in den Räumlichkeiten umzusehen. Vor allem war er neugierig, ob es einen Kellerraum gab, der dem von Abel Hradschek in Tschechin irgendwie ähnelte. Noch mehr aber reizte ihn im Augenblick das Gästehaus, in dem Siegfried Schulz aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet worden war. Jedenfalls nach Meinung des Gerichts wie des Kollegen Schneeganß.
Doch dieses Gästehaus des ›à la world-carte‹ gab es nicht mehr, der ehemalige Pferdestall war abgerissen worden.
»Warum denn das?«, fragte Mannhardt an seinen Enkel gewandt.
Orlando hatte eine logische Erklärung dafür. »Meinst du denn, da hat noch einer drin übernachten wollen, nachdem überall zu lesen stand, wo man Schulz ermordet hat?«
Mannhardt war ein wenig enttäuscht. »Klar, es ist Unsinn, aber ich hatte irgendwie gehofft, auch nach so langer Zeit noch was zu finden, was uns weiterbringen würde.«
Sie suchten an der Rückfront des Hauptgebäudes nach einer Möglichkeit, in das Innere des Hauses zu gelangen, ohne etwas aufbrechen zu müssen oder sich die Kleider zu zerreißen. Die Tür des Anbaus schien sich am ehesten ohne spezielles Werkzeug öffnen zu lassen. Mannhardt begann, das Schloss genauer zu untersuchen.
Eine keifende Stimme ließ ihn zusammenzucken. »Hallo, was machen Sie denn da?«
Mannhardt fuhr herum und sah am Zaun zum Nachbargrundstück eine alte verbitterte Dame stehen, die er aus Klütz’ Memoiren zu kennen glaubte. »Ah, Sie sind die Frau Laubach …?«
»Sind Sie ein ehemaliger Schüler von mir?«
»Ja«, log Mannhardt. »Der Hansjürgen aus der 5a.«
»Und was haben Sie hier zu suchen?«
Einen Augenblick schwankte er, dann schien es ihm doch am klügsten zu sein, der Laubach die Wahrheit zu sagen. »Wir sind im Auftrag von Herrn Klütz nach Frohnau gekommen. Es geht um die Wiederaufnahme seines Verfahrens.«
»Wieso denn das?«, wollte Carola Laubach wissen.
»Weil er inzwischen bestreitet, die Tat damals wirklich begangen zu haben.«
»Das fällt ihm jetzt erst ein, dass er es nicht gewesen ist …?« Die Laubach tippte sich an die Stirn. »Der ist wohl meschugge.«
»Das passiert bei einem Confessor gelegentlich, dass er später umfällt«, erklärte Mannhardt.
»Wie denn das?«, fragte die Laubach.
»Das kommt schon mal vor, dass einer bereitwillig mit der Kripo zusammenarbeitet und Verbrechen zugibt, die er gar nicht begangen hat, aus welchen Gründen auch immer: aus Geltungssucht, weil er sich selbst bestrafen will, weil er gelobt werden will, weil er seine Ruhe haben will, weil es ein versteckter Selbstmord ist. Da kommt immer viel zusammen. Und bei Klütz scheint die jahrelange Therapie dazu geführt zu haben, dass er die Tat bestreitet und sich dem Leben wieder stellen will,« erklärte Mannhardt.
»Wem soll man denn heute noch glauben?«, fragte die Laubach. »In dieser Welt ist doch alles durcheinander! Erst hätten wir schwören können, dass es der Wiederschein gewesen
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