Unterm Kirschbaum
Pathos: Frommt’s, den Schleier aufzuheben, / Wo das nahe Schrecknis droht? / Nur der Irrtum ist das Leben, / Und das Wissen ist der Tod.
»Fontane?«, fragte sein Enkel.
»Nein, Schiller: ›Kassandra‹. Aber bei Fontane heißt es dazu: Das ist das Tiefste, was je über Mensch und Menschendinge gesagt worden ist.«
»Ein schönes Leben, was der Klütz fast zehn Jahre lang im Knast geführt hat«, sagte Orlando. »Nur weil dein Kollege Schneeganß sich damals geirrt hat.«
Mannhardt blieb philosophisch. »Wer weiß, ob sein Leben draußen auch so erfüllt gewesen wäre. Und außerdem hat er ein Geständnis abgelegt.«
»Und vor Gericht widerrufen!«
»Bloß, dass ihm keiner mehr geglaubt hat. Künstlerpech.«
Mit Dialogen dieser Art erreichten sie Frohnau, stiegen zur Brücke hinauf und gingen zur Straße, an der das ›à la world-carte‹ gelegen war.
Mannhardt erinnerte sich. »Hier hatte ich mal einen Fall, wo ein Nachbar den anderen mit einem Osterei vergiften wollte, mit einem, das mit Zyankali gefüllt war, und da hinten am Ludolfinger Weg gab es mal ein junges Paar, das keinen Job finden wollte oder konnte und von der Rente eines Onkels gelebt hat – der war jedoch längst tot, und die Sache ist erst aufgeflogen, als das Gerücht aufkam, der Alte sei ermordet worden. Aber das war ja alles nicht so spektakulär wie die Leiche unterm Kirschbaum beziehungsweise unter der Garage.«
Als sie vor der Villa standen, in der einst Wiederschein sein ›à la world-carte‹ betrieben hatte, fühlten sie sich an die DDR des Jahres 1990 erinnert: Alles war verfallen und in einem jämmerlichen Zustand.
Mannhardt kam ein Schlager in den Sinn, den sie vor 50 Jahren bei einem solchen Anblick alle gesungen hatten: Rosemary Clooney, ›This Ole House‹.
This ole house once knew his children / This ole house once knew his wife / This ole house was home and comfort / As they fought the storms of life / This old house once rang with laughter / This ole house heard many shouts / Now he trembles in the darkness / When the lightnin’ walks about … Weiter kam er nicht mehr.
Orlando klatschte Beifall. »Deutschland braucht den Superstar nicht länger zu suchen, hier ist er: mein Opa! Aber sag mal: Was ist denn das, was du da gesungen hast? Hast du in der Volkshochschule eine neue Fremdsprache gelernt?«
Mannhardt war ein wenig gekränkt, hatte er doch sein bestes Englisch bemüht. »Wenn du das nicht verstehst, musst du dir eben die deutsche Fassung anhören: Bruce Low: ›Das alte Haus von Rocky Docky‹.« Und auch da kannte er die erste Strophe. »Das alte Haus von Rocky Docky hat vieles schon erlebt. Kein Wunder, dass es zittert, kein Wunder, dass es bebt. Das Haus von Rocky Docky sah Angst und Pein und …«
»Diese Bruchbude hier offenbar auch«, sagte Orlando. »Wenn der Schulz hier wirklich ermordet worden ist …«
»Komm, gehen wir mal rein.« Mannhardt war neugierig.
Orlando zögerte. »Wir behandeln das zwar erst im vierten Semester, aber juristisch gesehen ist das bestimmt nicht koscher.«
»Und wenn? Wo ein Loch im Zaun ist, da ist auch ein Weg.«
Ein vielleicht zehnjähriger Junge, der ein wenig Ähnlichkeit mit Harry Potter hatte, kam vorüber und konnte den schwarzen Neufundländer, den er an der Leine führte, kaum bändigen, so sehr bellte das Tier und gebärdete sich wie närrisch.
»Gehen Sie nicht rein in das Haus!«, rief ihnen der Junge zu. »Da drin spukt es, und der Hund, der wittert das.«
»Wir glauben nicht an Spuk und böse Geister, Hertha BSC wird Deutscher Meister«, sagte Mannhardt.
Orlando lachte. »Aber erst, wenn ich Opa bin – oder noch ein paar Jahre später.«
»Wirklich!«, beharrte der Junge. »Mein Freund sagt, dass da noch ’ne Leiche drin liegt.«
»Wie heißt du denn?«, fragte Mannhardt, man konnte ja nie wissen.
»Jasper.«
»Sehr schön. Und was weißt du noch so über dieses Haus?«
Der Junge bekam es nun mit der Angst zu tun. »Nichts weiter. Und ich muss jetzt nach Hause.« Damit ließ er sich von seinem Hund zum nächsten Baum ziehen.
»Das fängt ja gut an«, sagte Orlando. »So viel suspense hatte ich gar nicht erwartet.«
»Lass dieses blöde Wort!«, rief Mannhardt. »Seinetwegen habe ich mal in einer Englischarbeit eine Fünf bekommen, weil ich nämlich suspense mit Suspensorium übersetzt habe.«
Sein Enkel wollte es nicht glauben. »Deswegen schon?«
»Nein, vor allem, weil der Lehrer Fritz hieß und wir immer gesungen haben: ›Für
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