Unterm Kirschbaum
auszuschöpfen.
Kochte die Sache mit Schulz und Klütz jetzt wieder hoch, sah er gute Chancen, mit seinem Roman wahrgenommen zu werden und in die Talkshows zu kommen, zumal sein Held vor seiner indischen Episode in Berlin Ähnliches erlebt hatte wie er, das heißt, in Verdacht geraten war, jemanden ermordet zu haben. Wiederschein wusste, dass so ein bunter Vogel wie er bei ernsthaften Journalisten wie bei allen schnell bewegten Kulturfuzzies gute Karten hatte, und er erhoffte sich von seiner Rolle als Bestsellerautor ein neues Leben. Irgendwie würden die Leute merken, dass er ein düsteres Geheimnis mit sich herumtrug und ihn deswegen anhimmeln. Alle dürsteten ja danach, etwas Besonderes zu sein, und er war es: Er hatte einen Menschen kaltblütig ermordet, und es belastete ihn nicht im Geringsten, dass ein anderer für ihn mindestens 15 Jahre im Gefängnis saß. So war das Leben eben, was konnte er dafür.
Berauscht von seiner kommenden Bedeutsamkeit, verließ er gegen 22 Uhr seine Arbeitsstätte und ging zur Domsheide, um mit der Straßenbahn nach Hause zu fahren. Die Linie 2 brachte ihn nach Sebaldsbrück, von wo er bis zur Pletzer Straße, wo er unterm Dach zur Untermiete wohnte, nur wenige Minuten zu laufen hatte.
Während der Fahrt hing er seinen Gedanken nach. Der Besuch von Woytasch hatte ihn nicht sonderlich beunruhigt. Sollten sie das Verfahren ruhig wieder aufrollen, nach so vielen Jahren hatte er nichts mehr zu befürchten. Zu beweisen war ihm nichts, da konnte Klütz noch so eindringlich seine Unschuld beteuern. Auch von Angela drohte keine Gefahr, und mit Sandra Schulz hatte er nie Probleme gehabt, warum sollte die ein Interesse daran haben, ihn in die Pfanne zu hauen. So konnte er ganz berlinisch denken: Ihr könnt mich mal alle!
Am Steintor stieg Silke in die Straßenbahn. Mit der schlief er ab und an mal oder ging mit ihr ins Weserstadion, um Werder siegen zu sehen; es war nichts Ernsthaftes. Sie arbeitete als Verkäuferin in einer Bäckereikette und war eine ansehnliche Vertreterin der Generation Doof, aber nach Angela, die ständig so verquält herumgelaufen war wie eine Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises, tat sie ihm unheimlich gut.
Silke überredete ihn zu einem Quickie bei sich zu Hause, und so war seine Stimmung glänzend, als er endlich in sein Zimmer trat. Auf seinem kleinen Schreibtisch lag ein dickes Kuvert, von seiner Wirtin dort platziert, und schon von Weitem erkannte er das Signet des Verlages, dem er das ›Urug‹-Manuskript geschickt hatte. Ein alter Hase hätte sofort gewusst, dass dies nichts anderes als Ablehnung des Stoffes heißen konnte, er aber dachte, man hätte ihm das Ganze wegen ein paar kleinerer Korrekturen nach Bremen geschickt.
Doch als er den Umschlag aufgerissen und den Begleitbrief gelesen hatte, war ihm zumute, als hätte er gerade sein Todesurteil vernommen. Nicht gedruckt zu werden, hieß ja irgendwie auch, nicht leben zu dürfen. Ende, aus!
Er fiel auf sein Bett und dachte, dass dies nichts anderes sein könne als die gemeinsame Rache von Schulz und Klütz. Jetzt bist du genauso tot wie wir!
Und zum ersten Mal in seinem Leben dachte er daran, allem ein Ende zu machen, sich selbst zu erlösen. Aber wie? Sollte er mit dem Rad nach Osterholz-Tenever fahren und sich von einem Hochhaus stürzen? Sollte er nach Mahndorf laufen, um sich vor den nächsten Zug zu werfen? Sollte er zum Dobben fahren und einem Polizisten die Waffe entreißen, um sich damit zu erschießen? Oder sollte er zu Hause bleiben und alle seine Schlaf- und sonstigen Tabletten auf einmal schlucken?
10.
Im Dorfe gab es inzwischen viel Gerede, das aller Orten darauf hinauslief: »Es sei was passiert und es stimme nicht mit den Hradscheks. Hradschek sei freilich ein feiner Vogel und Spaßmacher und könne Witzchen und Geschichten erzählen, aber er hab’ es hinter den Ohren, und was die Frau Hradschek angehe, die vor Vornehmheit nicht sprechen könne, so wisse jeder, stille Wasser seien tief. Kurzum, es sei den beiden nicht recht zu traun …«
(Theodor Fontane, ›Unterm Birnbaum‹)
Hansjürgen Mannhardt und sein Enkel hatten beschlossen, nach Bremen zu fahren und mit Rainer Wiederschein zu reden. Da sich Heike weigerte, Mannhardt ihren Wagen zu überlassen, und Orlando zudem immer übel wurde, wenn er länger als eine Stunde im Auto saß, blieb ihnen nur die Bahn.
»Über Hannover dauert es rund drei Stunden«, sagte Orlando, als er sich im Internet kundig gemacht
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