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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Entschlüssen keine Ahnung hatten. Sooft er dem Arzt begegnete, mußte er denken: »Na, du wirst schauen!«
    Das Schicksal ließ ihn sich seiner finsteren Absichten erfreuen und schaute zu, wie er aus dem Kelch des Todes täglich ein paar Tropfen der Lust und Lebenskraft genoß. Es mochte ja wenig an diesem verstümmelten jungen Wesen gelegen sein, aber seinen Kreis sollte es doch erst vollenden und nicht vom Plan verschwinden, ehe es noch ein wenig von der bitteren Süße des Lebens geschmeckt hätte.
    Die unentrinnbaren quälenden Vorstellungen wurden seltener und wichen einem müden
    Sichgehenlassen, einer schmerzlos trägen Stimmung, in welcher Hans die Stunden und Tage gedankenlos vorübertreiben sah, gleichmütig ins Blaue schaute und zuweilen schlafwandelnd oder kindisch zu sein schien. In träger Dämmerstimmung saß er einmal im Gärtchen unter der Tanne und summte, ohne es recht zu wissen, immer wieder einen alten Vers vor sich hin, der ihm, von der Lateinschule her, gerade eingefallen war:
    Ach, ich bin so müde,
    Ach, ich bin so matt,
    Hab' kein Geld im Portemonnaie
    Und auch keins im Sack.
    Er summte ihn nach alter Melodie und dachte nichts dabei, als er ihn zum zwanzigstenmal anstimmte. Sein Vater aber stand nahe am Fenster, hörte zu und hatte einen großen Schrecken.
    Seiner trockenen Natur war dieser gedankenlose, wohlig stumpfsinnige Singsang völlig
    unverständlich, und er deutete ihn seufzend als ein Zeichen hoffnungsloser Geistesschwäche.
    Von da an beobachtete er den Jungen noch ängstlicher, der merkte es natürlich und litt
    darunter; doch kam er noch immer nicht dazu, den Strick mitzunehmen und von jenem starken Aste Gebrauch zu machen.
    Inzwischen war die heiße Jahreszeit gekommen und seit dem Landexamen und den damaligen
    Sommerferien schon ein Jahr vergangen. Hans dachte gelegentlich daran, doch ohne sonderliche Bewegung; er war ziemlich stumpf geworden. Gerne hätte er wieder angefangen zu angeln, doch wagte er nicht, den Vater darum zu bitten. Es plagte ihn, sooft er am Wasser stand, und manchmal verweilte er lang am Ufer, wo niemand ihn sah, und folgte mit heißen Augen den Bewegungen der dunkeln, lautlos schwimmenden Fische. Gegen Abend ging er täglich eine
    Strecke flußaufwärts zum Baden, und da er dabei stets an dem kleinen Haus des Inspektors Geßler vorüber mußte, entdeckte er zufällig, daß die Emma Geßler, für die er vor drei Jahren geschwärmt hatte, wieder zu Hause sei. Neugierig sah er ihr ein paarmal nach, aber sie gefiel ihm nicht mehr so gut wie früher. Damals war sie ein zartgliedriges, sehr feines Mädelchen gewesen, jetzt war sie gewachsen, hatte eckige Bewegungen und trug eine unkindliche, moderne Frisur, die sie vollends ganz entstellte. Auch die langen Kleider standen ihr nicht, und ihre Versuche, damenhaft auszusehen, waren entschieden unglücklich.
    Hans fand sie lächerlich, zugleich aber tat es ihm leid. wenn er daran dachte, wie sonderbar süß und dunkel und warm ihm damals, sooft er sie sah, zumut gewesen war. Überhaupt - damals war doch alles anders gewesen, so viel schöner, so viel heiterer, so viel lebendiger! Seit langer Zeit wußte er von nichts als von Latein, Geschichte, Griechisch, Examen, Seminar und Kopfweh.
    Damals aber hatte es Bücher mit Märchen und Bücher mit Räubergeschichten gegeben, da hatte er im Gärtchen eine selberverfertigte Hammermühle laufen gehabt und abends
    die
    abenteuerlichen Geschichten der Liese im Nascholdischen Torweg mit angehört, da hatte er eine Zeitlang den alten Nachbar Großjohann, genannt Garibaldi, für einen Raubmörder angesehen und von ihm geträumt und hatte das ganze Jahr hindurch sich jeden Monat auf irgend etwas gefreut, bald auf das Heuen, bald auf den Kleeschnitt, dann wieder auf das erste Angeln oder Krebsen, auf Hopfenernte, Pflaumenschütteln, Kartoffelfeuer, auf den Beginn des Dreschens und
    zwischenein noch extra auf jeden lieben Sonn- und Feiertag. Da hatte es noch eine Menge von Dingen gegeben, die ihn mit geheimnisvollem Zauber anzogen: Häuser, Gassen, Treppen,
    Scheunenböden, Brunnen, Zäune, Menschen und Tiere aller Art waren ihm lieb und bekannt oder rätselhaft verlockend gewesen. Beim Hopfenpflücken hatte er mitgeholfen und zugehört, wie die großen Mädchen sangen, und hatte sich Verse aus ihren Liedern gemerkt, die meisten zum
    Lachen drollig, und einige aber auch merkwürdig klagend, daß es einen beim Zuhören im Halse würgte.
    Das alles war untergesunken und zu Ende

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