Unterm Rad
Infinitiv, Perfektum und Futurum des Verbums lauteten, er mußte es im Singularis, Dual und Plural durchkonjugieren und geriet in Angst und Schweiß, sobald es haperte.
Wenn er alsdann zu sich kam, hatte er ein Gefühl, als sei sein Kopf innen überall wund, und wenn sich sein Gesicht unwillkürlich zu jenem schläfrigen Lächeln der Resignation und des
Schuldbewußtseins verzog, hörte er sogleich den Ephorus: »Was soll das dumme Lächeln
heißen? Sie haben es gerade nötig, auch noch zu lächeln!« Im ganzen wollte, trotz einzelner besserer Tage, sich kein Fortschritt in Hansens Zustand zeigen, es schien eher rückwärts zu gehen. Der Hausarzt, der seinerzeit die Mutter behandelt und toterklärt hatte und den
manchmal ein wenig gichtleidenden Vater besuchte, machte ein langes Gesicht und zögerte von Tag zu Tag, seine Ansicht zu äußern.
Erst in jenen Wochen merkte Hans, daß er in den zwei letzten Lateinschuljahren keine Freunde mehr gehabt habe. Die Kameraden von damals waren teils fort, teils sah er sie als Lehrlinge herumlaufen, und mit keinem von ihnen verband ihn etwas, bei keinem hatte er etwas zu suchen, und keiner kümmerte sich um ihn. Zweimal sprach der alte Rektor ein paar freundliche Worte mit ihm, auch der Lateinlehrer und der Stadtpfarrer nickten ihm auf der Straße wohlwollend zu, aber eigentlich ging Hans sie nichts mehr an. Er war kein Gefäß mehr, in das man allerlei hineinstopfen konnte, kein Acker für vielerlei Samen mehr; es lohnte sich nicht mehr, Zeit und Sorgfalt an ihn zu wenden.
Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn der Stadtpfarrer sich seiner ein wenig angenommen hätte.
Aber was sollte er tun? Was er geben konnte, die Wissenschaft, oder wenigstens das Suchen nach ihr, hatte er dem Jungen seinerzeit nicht vorenthalten, und mehr hatte er eben nicht. Er war keiner von den Pfarrern, in deren Latein man begründete Zweifel setzt und deren Predigten aus wohlbekannten Quellen geschöpft sind, zu denen man aber in bösen Zeiten gerne geht, weil sie gute Augen und freundliche Worte für alles Leiden haben. Auch Vater Giebenrath war kein Freund oder Tröster, wenn er sich auch alle Mühe gab, den Ärger seiner Enttäuschung über Hans zu verbergen. So fühlte dieser sich verlassen und ungeliebt, saß im kleinen Garten an der Sonne oder lag im Wald und hing seinen Träumereien oder quälerischen Gedanken nach. Mit Lesen konnte er sich nicht helfen, da ihm dabei immer bald Kopf und Augen schmerzten und weil aus jedem seiner Bücher ihm sogleich beim Aufschlagen das Gespenst der Klosterzeit und des
dortigen Angstgefühls auferstand, ihn in luftlose bange Traumwinkel trieb und dort mit
glühendem Blicke festbannte. In dieser Not und Verlassenheit trat dem kranken Knaben ein anderes Gespenst als trügerischer Tröster nahe und wurde ihm allmählich vertraut und
notwendig. Das war der Gedanke an den Tod. Es war ja leicht, sich etwa eine Schußwaffe zu verschaffen oder irgendwo im Walde eine Seilschlinge anzubringen. Fast jeden Tag begleiteten ihn diese Vorstellungen auf seinen Gängen, er betrachtete sich einzelne, still gelegene Örtlein und fand schließlich einen Platz, wo es sich schön sterben ließ und den er endgültig zu seiner Sterbestätte bestimmte. Er suchte ihn immer wieder auf, saß da und fand eine seltsame Freude daran, sich vorzustellen, daß man ihn dort nächstens einmal tot finden würde. Der Ast für den Strick war bestimmt und auf seine Stärke geprüft, keine Schwierigkeiten standen mehr im Wege; allmählich wurde auch, mit längeren Pausen, ein kurzer Brief an den Vater und ein sehr langer an Hermann Heilner geschrieben, die man bei der Leiche finden sollte.
Die Vorbereitungen und das Gefühl der Sicherheit übten einen wohltätigen Einfluß auf sein Gemüt. Unter dem verhängnisvollen Aste sitzend, hatte er manche Stunden, in denen der Druck von ihm wich und fast ein freudiges Wohlgefühl über ihn kam. Warum er nicht schon längst an jenem Aste hing, wußte er selbst nicht recht. Der Gedanke war gefaßt, sein Tod war eine beschlossene Sache, dabei war ihm einstweilen wohl, und er verschmähte nicht, in diesen letzten Tagen den schönen Sonnenschein und das einsame Träumen noch auszukosten, wie man es
gern vor weiten Reisen tut. Abreisen konnte er ja jeden Tag, es war alles in Ordnung. Auch war es ihm eine besondere bittere Wonne, sich freiwillig noch ein wenig in der alten Umgebung aufzuhalten und den Leuten ins Gesicht zu sehen, die von seinen gefährlichen
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