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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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etwas zu fressen für eine streunende Katze tat, wenn er daran dachte.
    Ich weiß, wer ich bin. Wer ist er?
    Er zog den Reißverschluß seiner Jacke zu. Dann streifte er den Handschuh über seine linke Hand, einen weißen Frauenhandschuh, und ging auf die leere Straße hinaus, wo sein Auto unter dem Blechhimmel wartete.

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1
    I ch bin immer mein eigenes Land gewesen. Eine gewisse Distanz liegt in meinem Auftreten, wie bei meinem Vater wohl, eine gemessene Losgelöstheit, die ich zuweilen zu verringern versuche – oder es zumindest glaube – oder mir sage, scheiß drauf.
    Ich sage gern zu meiner Frau. Ich sage zu meiner Frau. Ich sage ihr, Verlier nicht die Geduld mit mir. Ich sage ihr, Da gibt es ein italienisches Wort, oder ist es lateinisch?, das alles erklärt.
    Dann sage ich ihr das Wort.
    Sie fragt, Und was erklärt das? Und sie antwortet, Nichts.
    Das Wort, das in diesem Fall nichts erklärt, heißt lontananza. Distanz oder Entferntheit, klar. Aber so wie ich das Wort benutze, wie ich es interpretiere, scharfkantig und feinkörnig, trifft es die perfekte Distanz des Verbrechers, des Syndikatgangsters – des gemachten Mannes. Wenn du einmal ein gemachter Mann bist, brauchst du den stetigen, lebendigen Zufluß von Quellen außerhalb der eigenen Person nicht mehr. Du bist ganz da. Du bist gemacht. Handgemacht. Du bist eine massive römische Mauer.
    Ich war in Los Angeles und dachte über diese Dinge nach. Es heißt, L. A. wäre nur halb da, und vielleicht mußte ich deshalb an meinen Vater denken. Und auch, weil mein Bruder Matt – es war Matts ewige Grundthese, sein Hoheslied, daß unser Alter Jimmy irgendwo in Südkalifornien unter angenommenem Namen lebte, wie üblich.
    Ich sagte ihm, Jimmy sei tot, und zwar unter seinem eigenen Namen. Wir waren diejenigen mit angenommenem Namen.
    Aber das Komische, der Widerspruch bestand darin, daß ich mitten auf einem umzäunten Grundstück in einem Bungalowslum stand und zu den Spitzen des großartigen, merkwürdigen Architekturgebildes hochschaute, das als Watts Towers bekannt ist, eine Idiosynkrasie aus unschuldig anarchistischen Visionen, und je länger ich hinschaute, desto mehr mußte ich an Jimmy denken. Die Türme und Vogelbassins und Springbrunnen und verzierten Pfeiler und bunten Abfälle und Haushaltsfarben, die grünen Flaschen von 7-Up und die blauen von Milk of Magnesia, all die lebhaften, in Beton eingebetteten Kacheln, der gesamte Komplex aus Strukturen und Toren und Platten, von einem Mann allein gebaut, handgebaut, von einem vermutlich ungebildeten Einwanderer aus der Nähe von Neapel, der seine Frau und Familie verlassen hatte, oder vielleicht hatten sie ihn verlassen, ich wußte es nicht genau, von einem Mann, dessen Lebensgeschichte größtenteils aus Leerstellen besteht, Geburtsdatum unbekannt, und dann bringt er schließlich dreiunddreißig Jahre damit zu, dieses Ding aus Stahlstangen und zerbrochenem Geschirr und Kieseln und Muscheln und Limonadenflaschen und Maschendraht zu bauen, alles von Hand gemörtelt, dreitausend Säcke Sand und Zement, und er verbringt diese Jahre mit Glassplitterkrusten auf Händen und Armen und Glasstaub in den Augen, während er hoch oben im Gurt eines Fensterputzers von den Türmen hängt, in zerschlissenem Overall und einem staubigen Filzhut, das Gesicht braungebrannt, und in den Speichen der Türme sind Lampen befestigt, damit er auch nachts arbeiten kann, in etwa dreißig Metern Höhe, und auf dem Grammophon unter ihm Caruso.
    Jimmy war ein Grenzsucher, ein Handleser, der seine Zukunft aus den eigenen Linien ableitete, aber eines Tages, behauptet mein kleiner Bruder, schaute er seine Hand an, und sie war leer. Verwandelte er sich in einen, konnte ich ihn mir vorstellen als einen herumirrenden Sonderling? In gewisser Weise schon, ein Mann, der sich nicht wäscht und seine Kleider nicht wechselt, wie ein Penner, und auf der Straße Selbstgespräche führt, doch andererseits konnte ich mir auch vorstellen, daß er so hoch aufstieg wie dieser hier, aus sich selbst emporschnellte, um eine rasende Kunst zu produzieren, die keine Kategorie kennt, Kunst aus Zement und Maschendraht.
    Das war der Widerspruch. Jimmys Zukunft machte an dem Abend dicht, als er Zigaretten holen ging. Warum sollte ich auch versuchen, ihn mir in einer Parallelwirklichkeit vorzustellen, Jimmy hier draußen, halb hier, ins Licht von L. A. und ins mediterrane Wetter geflohen?
    Ich ging zwischen den durchbrochenen Türmen hindurch, drei

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