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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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ganze Zeit, gleich würde das Mädchen die Kamera schwenken und ihn ins Bild kriegen. Er hatte das Video ein dutzendmal gesehen, seinen schmerzgeplagten Dad neben sich, und jedesmal von neuem gedacht, gleich würde er in seinem eigenen Wohnzimmer auftauchen, losgelöst von dem, der er war, mit zusammengekniffenen Augen über das Steuer seines Kleinwagens spähend.
    Er rief Sue Ann noch zweimal danach an, aber in der Telefonzentrale wollte man ihn nicht durchstellen, weil jetzt viele andere versuchten, sie zu erreichen, und in der Telefonzentrale war man argwöhnisch und sprunghaft und ungläubig. Er brauchte Sue Ann, um ganz zu bleiben. Wahrscheinlich hätte er ihr seinen Namen genannt. Im Verlauf mehrerer Anrufe, mehrerer Tage hätte sie ihn vollständig auseinandernehmen können, indem sie ihn vom Bildschirm herunter anschaute. Er hätte sich ihr in einem Lichtgewitter ergeben, Richard Henry Gilkey, wäre einen Korridor entlanggeschubst worden, lauter stetsonbehütete Männer um ihn herum und Sue Ann Corcoran an seiner Seite.
    Er fuhr an dem Fahnenmast mit der scheppernden Falleine vorbei. Der Wind donnerte die Falleine gegen den Mast, und das machte ihn irgendwie schwach, die wiederholte Bedeutung dieses Geräuschs.
    Er ging ins Haus und sah seinen Dad ganz zusammengekrümmt vor dem Fernseher liegen. Mutter war in der Küche und ließ einen Quirl in einer weißen Schüssel laufen.
    »Sieh mal einer an, was die Katze da hereingeschleppt hat.«
    »Ich bin zu Bud rausgefahren.«
    »Haben wir etwa so viel Zeit, daß du zu Bud rausfahren kannst?«
    »Wir müssen Daddy sein Nitrospan geben.«
    »Na dann los, gib es ihm schon.«
    »Sollten wir nicht anrufen wegen der neuen Dosierung?«
    »Ich hab nicht angerufen. Hast du angerufen?« sagte sie.
    Die Glaskabine hatte einen Sprechschlitz, durch den gesprochen wurde. Aber sie schickten ihn nach draußen an die Kasse und zwangen ihn, quer über den Gang zu sprechen.
    »Ich ruf mal an«, sagte sie, »aber er ist nicht da.«
    »Du kriegst den Auftragsdienst dran.«
    »Ich krieg den Auftragsdienst dran, und die sagen mir dann, daß er nicht da ist.«
    »Ich wollte ja anrufen«, sagte er.
    »Ich ruf an«, sagte sie, »und du reibst ihn ein.«
    Nach dem Abendessen rieb er seinem Vater die Brust ein. Sein Vater legte sich rücklings aufs Bett, mit dem stoppligen Aussehen eines alten Mannes, der sich in einen Ausgemusterten verwandelt, einen Ausgestoßenen von den Inseln, abgesehen von seinen Augen – sie waren feucht und tief und flehten um Zeit. Richard rieb die Salbe ein und knöpfte seinem Vater die Pyjamajacke zu, und er dachte daran, daß jeden Tag der Zeitpunkt kommen konnte, wenn er ihm den Hintern würde abwischen müssen.
    Zu erledigen: Benachrichtigung der nächsten Angehörigen.
    In ihnen wurde er lebendig. Er lebte in ihren Geschichten, in den Fotos in der Zeitung, er überlebte in den Familienerinnerungen, lebte mit den Opfern, lebte weiter, verschmolz, verdoppelte, vervierfachte sich und potenzierte sich immer weiter.
    Er stand an der Küchentür und beobachtete sie beim Anrühren irgendeiner Lösung, der ersten Dosis seines Vaters am nächsten Tag.
    »Also, ich wünsche dir eine gute Nacht.«
    »Schlaf du gut«, sagte sie.
    Er ging in sein Zimmer und setzte sich auf einen Stuhl, um die Schuhe auszuziehen. Jeglicher Sinn eines bestimmten Lebens lag darin, sich zu bücken, um die Schuhe aufzubinden und sie für den Beginn des nächsten Tages an einen bestimmten Platz zu stellen.
    Er dachte an die andere Person.
    Als er den Posten in der Kabine hatte, gab es den Sprechschlitz zum Hindurchsprechen. Aber als sie ihn an die Kasse zurückversetzten, mußte er im offenen Raum sprechen, wo ihn jeder hören konnte.
    Er versteckte die Waffe im Auto, und er dachte darüber nach, als er langsam in den Schlaf hinüberglitt, und er dachte an die andere Person, die auf einem der Highways, wo er einen Autofahrer erschossen hatte, einen Autofahrer erschossen hatte, nur einen Tag später. Die sogenannte Trittbrett-Schießerei. Er mochte den Gedanken daran nicht, merkte aber, daß er sich in letzter Zeit immer hartnäckiger und höhnischer in seinem Kopf behauptete.
    Er war Frühaufsteher. Er hörte den Regen auf dem Dach, und er zog sich an und aß im Stehen ein Muffin, die Hand unterm Kinn, um die Krümel aufzufangen. Er hatte noch dreieinhalb Stunden, bis er sich an seiner Arbeitsstelle melden mußte. Er hörte den Regen aus der Dachrinne tropfen, auf die Pastetendose, in die er

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