Unterwelt
reden«, sagte Miles. »Mehr ist da nicht, fürchte ich. Er sagte, ich solle Sergej zu ihm sagen.«
»Was noch?«
»Er trank eine Unmenge Milch. Er sagte, es sei Frühstückszeit.«
»Was noch?« fragte Miles.
»Er brachte die Milch gleich mit, in einer Flasche. Ich holte ihm ein Glas, und er bedankte sich.«
»Was noch?« fragte Miles.
Und dann wußte auch keiner, wo der Titel herkam. Eisenstein konnte deutsch und hatte vielleicht einen Grund dafür, einen Titel in dieser Sprache zu wählen. Aber noch wahrscheinlicher war, daß der Film während seiner langen Ruhezeit in einem unterirdischen Gewölbe in Ostberlin zu dem Titel kam.
»Zwergenhafter Bursche, erinnere ich mich.«
»Was noch?«
»Großer Kopf. Irgendwie sehr hohe Stirn. Milch gab es damals in Flaschen, wißt ihr noch?«
Bald wurde daraus der Film, den man gesehen haben mußte. Eine hübsche, dichte Hysterie baute sich auf, und die Karten gingen für schockierende Summen über den Tisch, und gefälschte Karten tauchten auf, und Leute kamen ganz schnell von Martha's Vineyard und Fire Island und Cape Cod zurück, um noch einen Platz zu ergattern.
Bloß ein Film, meine Güte, noch dazu ein Stummfilm, ein Film, von dem man wahrscheinlich noch nie gehört hatte, bis die Times in der Sonntagsausgabe was drüber brachte. Aber so gedeiht die Verhaltensverirrung, kaum begonnen, schon zu üppiger Panik.
»Werden wir denn überhaupt genug Sitzfleisch haben?« sagte Esther. »Oder ist das wieder so was, wo wir alle in Ehrfurcht erstarren, weil wir etwas ganz Großartiges miterleben dürfen, aber in Wirklichkeit sind wir alle fest entschlossen, als erste draußen zu sein, damit wir ein Taxi kriegen.«
»Du denkst an Theater«, sagte Miles. »Das hier ist aber Kino.«
Jack Marshall kam an, er roch nach Erdnüssen aus dem Mund, Esthers Mann, und sie betraten den Zuschauerraum.
Klara fiel es jetzt wieder ein, plötzlich war es so vertraut, dieses Gefühl von Plüsch und Bemutterung und Behaglichkeit, als sei ihre Mutter hier, ein besänftigend bauchgerundeter Raum, und wie der Bogen der Vorderbühne sich strahlenförmig nach vorn und oben ausbreitete, fast acht Stockwerke hoch an seinem höchsten Punkt, und die flaumweichen Sitze in speichenförmig verlaufenden Reihen, und die Chortreppen, Auflockerung der Seitenwände, und die Überriesigkeit, die hier zulässig erschien – deine einzige Nachgiebigkeit dieser Art – und die jeden im Saal auf Kindergröße schrumpfen ließ, sich drehende und hebende Köpfe, eine wiederentdeckte Überraschung und Freude, die über der Menge schwebte, und dieses Gefühl würden die Menschen heute abend nicht zum letzten Mal teilen.
Wie sich herausstellte, hatte die Vorführung einen Rhythmus und ein Motiv, sie begann mit einer hinter der Bühne erklingenden, jagenden Musik, ein blechernes Klavier spielte ein Ragtime-Stück, die typische Stummfilmbegleitung. Dann wurde das Licht im Zuschauerraum gedämpft, der große motorgetriebene Vorhang hob sich gemächlich, und das gesamte Orchester erschien. Ein Rascheln im Publikum. Augenblicke später setzten die Musiker ein, die ganze Kapelle bewegte sich langsam, rollte hübsch in ihrem flachen Bühnenwagen auf die Rampe zu. Wie wundersam drollig und merkwürdig. Die Musik wurde jetzt spannungsvoll, eine Reihe verminderter Akkorde, vielleicht ein angstvoll schwebender Augenblick – und richtig, das Orchester erreichte die Rampe und sackte ziemlich dramatisch in den Graben und damit vollkommen außer Sicht, per Fahrstuhl nach unten wie eine Meute Jahrmarktsgaukler im Frack, ein Manöver mit einem gewissen farcenhaften Aplomb, von Hochrufen begleitet.
Weg, aber nicht außer Hörweite. Jetzt spielten sie patriotische Musik, ein Medley bekannter Märsche mit gedämpften Trommelwirbeln und Sousaphonen, und der Vorhang senkte sich halb, neugestaltet in Flaggenformat und in Farbschwällen gestirnt und gestreift, und gerade als das Publikum sich zu fragen begann, was das wohl sollte, kamen die Rockettes heraus, das war vielleicht ein appetitlicher Schock – hatte irgendwer gewußt, daß es hier auch eine Bühnenshow frei Haus gab?
Sie trugen militärakademiegrau, West-Point-grau, und kamen salutierend heraus, sechsunddreißig Frauen aufgemacht als auswechselbare Teile in Größe, Figur, Rasse und Typus, Federn an den Kostümhüten und Fransen an den Titten und die Gesichter weihnachtsrosa gebuttert, aber schau mal, wie komisch, die tragen Sklavenhalsbänder – salutieren und
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