Unterwelt
vorankroch.
Wie und wann würde sich alles offenbaren?
Sie fragte sich, warum es ein Stummfilm war. Vielleicht war er früher gedreht worden, als die Fachleute annahmen. Aber sie hielt es für wahrscheinlicher, daß Eisenstein wußte, er würde den Film leichter im geheimen drehen können, wenn er auf Ton verzichtete. Und vielleicht paßte die Stille auch zur Entfaltung seiner Motive.
Was war mit der Politik? Sie überlegte. Dieser Film konnte durchaus ein Protest gegen den sozialistischen Realismus sein, gegen das Mandat im Geiste der Partei, daß nur Kunst zu produzieren sei, die die sowjetische Sache voranbringe. Befand er sich im geheimen Widerstand? Laut Miles war er wegen früherer Arbeiten verurteilt worden und hatte anscheinend aufgegeben. Aber was war dieser düstere Film, diese eigenartige, dunkle, sich dahinschleppende Reihe von Bildern, wenn nicht ein leidenschaftlicher Ausbruch, eine Unabhängigkeitserklärung?
Noch besser. Schien dieser Film nicht den Terror vorwegzunehmen, der in den späten dreißiger Jahren gegen russische Künstler ausgeübt wurde? Die Geheimpolizei. Die Verhaftungen, die Folter, die Verschwundenen, die Hinrichtungen.
Der wahnsinnige Wissenschaftler legt die Waffe an.
Eine Gestalt steht an einer Wand, ihr Körper wird weiß.
Der Wissenschaftler lächelt angespannt.
Das Opfer erfährt eine Verwandlung, schmerzgeplagt, seine Unterlippe tropft von seinem Gesicht herunter, seitlich am Hals entsteht eine Wucherung, ein strahlendes Zeitraffer-Melanom.
Der Wissenschaftler tritt heran und berührt den Mann zart an der Wange.
Abrupt wurde die Leinwand dunkel. Eine Pause, das kam äußerst gelegen, und Klara wollte Esther auf eine Tour durch die Damentoiletten mitnehmen, es gab nämlich einige davon, überlegte sie, auf verschiedenen Ebenen, und sehr wohl eine Besichtigung wert – Wandgemälde, Skulpturen, Mobiliar, Dinge, die sie mit den Augen ihrer Mutter gesehen hatte, plötzlich frei im Raum, unabhängig von der Erinnerung.
Miles ging nach oben in einen privaten Vorführraum im dritten Zwischengeschoß, um sich mit seinen Kollegen zu beraten. Die beiden Frauen ließen Jack auf einem Sessel in der großen Lounge unten sitzen, einem mit Teppich ausgelegten, etwa sechzig Meter langen Bereich, und betraten die nächste Damentoilette.
»Ich habe eine Frage«, sagte Esther.
Klara steckte sich eine Zigarette an. Esther, die aufgehört hatte zu rauchen, schnorrte eine und zündete sie an und inhalierte und schaute dann weg, um den Genuß zu bewahren, vor Ablenkung zu schützen.
Sie hörten etwas donnern. Sie spürten, wie unter ihren Füßen etwas erzitterte, und Klara musterte, aufmerksam lauschend, die weiße Pergamentwand.
Dann nahm sie einen Zug und sagte: »Alles klar, Liebes. Nur die U-Bahn. Die IND-Linie, die mit ihrer Ladung menschlicher Seelen unter der Sixth Avenue entlangpflügt.«
Sie gingen nach oben ins Zwischengeschoß und lugten ins Herrenzimmer hinein, Nußbaum und Schweinsleder, und Klara fragte: »Na, wie lautet deine Frage?«
»Müssen wir bis zum Ende bleiben?«
»Miles hat sich fast ein Bein ausgerissen. Außerdem will ich sehen, wie's weitergeht.«
»Wie kann das noch weitergehen?«
»Was weiß ich. Aber ich finde es interessant, bei diesem Film ab und zu hinzuschauen.«
»Er hat so einen Ton«, sagte Esther. »Und wie er fotografiert ist. Die Blicke, die gewechselt werden. Alles natürlich furchtbar verschleiert. Und wie der Wissenschaftler.«
»Das Opfer berührt hat.«
»Was weißt du über Eisenstein?«
»Er war doch dein Freund, nicht meiner«, sagte Klara.
Sie machten ihre Runde durch die Damentoiletten und gingen wieder nach unten ins Untergeschoß zu Jack, der über dem Rumpeln eines weiteren durchfahrenden U-Bahnzuges saß.
Es war einer von seinen, von Moonmans Zügen, er hatte ein Dutzend Werke im Netz laufen, top-to-bottom-burners, vollgemalt von oben bis unten, und wie es sich so fügte, war er in dieser Nacht selbst an Bord, unter den Wasserleitungen und Abwasserrohren, unter Gas und Dampf und Strom, zwischen den Hochwasserkanälen und den Telefonleitungen, und er ging bei jeder Station einen Wagen weiter und schaute die Einsteigenden mit ihren abnehmbaren U-Bahn-Gesichtern prüfend an, und die Türen machten Dingdong, bevor sie zuknallten.
Ismael Muñoz, dunkel und finster, die Einsteigenden im Blick. Der spärlich bestoppelte Ismael las Lippen und Gesichter, in der Hoffnung, einen Bravo-Kommentar aufzuschnappen. Hey, dieser Typ
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