Unterwelt
schmeißen die Beine in maschinenhaftem Gleichschritt, und Klara fand sie irgendwie klasse, und das fanden auch alle anderen. Sie hupften in geschlossene Aufstellung, steppten in einem schillernden Regenbogen, eitel Symmetrie und Drillpräzision, dann fächerten sie sich in kaleidoskopischen Ausbrüchen auf, und Klara gab über den Mittelgang eine Frage an Miles weiter, der am äußeren Ende der Vier saß.
»Woher wissen wir eigentlich, daß das wirklich die Rockettes sind und keine Damendarstellertruppe?«
Und dieser putzige Gedanke schien sich durchs Publikum fortzupflanzen, denn es war doch unwahrscheinlich, daß die echten Rockettes Sklavenhalsbänder tragen und Tanznummern in einem so pulsierend sexuellen Rhythmus zeigen würden. In Wirklichkeit ist es wohl gar nicht unwahrscheinlich, vermutlich machen sie das die ganze Zeit. Weiß man aber doch nicht sicher, oder? Und wenn sie die echten Rockettes sind, dann hat man hier drei Dutzend Frauen in Kadettenaufstellung, in geschlossener Formation, oder vielmehr Frauen, die als Männer verkleidet sind, und nicht umgekehrt – aber egal wie, es ist ein Travestie-Spektakel.
Klara merkte, daß der Flaggenvorhang weg war. Und als eine Kamera von den Soffitten aus eine Video-Live-Aufnahme der Truppe machte, die dann auf eine Leinwand hinter ihnen projiziert wurde, begriff sie wie alle Anwesenden, auf welche Weise man eine Menschenmenge umgruppiert, in methodische Geometrie zwingt, in Laufknoten und Serpentinen. Und das war natürlich urkomisch, weil die Tanzschritte so makellos geschmeidig und ernst gemeint waren, so dreißigerjahrehaft in ihren dynamischen Anordnungen, und war das nicht auch die Entstehungszeit des Films?
Die Tänzerinnen verteilten sich auf der Bühne, und mit einem einzigen, geschickten Schwung rissen sie sich die abnehmbaren Hosen weg, wie eine Pistole aus dem Halfter, und stürzten sich mit aufblitzenden Superbeinen in einen letzten, rauschenden Kickstep, der mehrere Wellen Applaus erntete. Dann lösten sie Reih und Glied auf und bildeten einen Stern, deutlich zu sehen in der Aufnahme aus der Vogelperspektive auf dem Bildschirm über ihnen, und die Rampenscheinwerfer tauchten sie in tiefes Rot. Sie marschierten auf der Stelle, während das Orchester feierlich im Graben höher stieg und zu spielen begann, was denn – irgendwas Russisches, dachte Klara. Wie seltsam, so etwas zu sehen, einen roten Stern von solch politischer und militärischer Bedeutung, hier reingeknallt, das grimmige Signet der Sowjetunion ausgerechnet in der Music Hall – überleg mal, all die Oster-Shows und Lassie-Filme.
Die Tänzerinnen standen jetzt mit weißen Gesichtern im Bühnenhintergrund, erstarrt unter den Lichtstrahlen von den Mammutscheinwerfern ganz oben, ganz hinten im Zuschauerraum. Der Vorhang senkte sich langsam, bedeckte zuerst das Videobild der Tänzer und dann die Tänzer. Die Musik wurde klagend und rüschig, und dann hob sich der Vorhang wieder und gab die große Filmleinwand frei, auf der ein einziges Wort stand, Unterwelt, und schließlich falteten sich die Ränder an beiden Enden der gebogenen Leinwand nach innen, um den kleinen, fast quadratischen Ausschnitt des alten Films einzurahmen, und Bilder ergossen sich aus der Projektionskabine, holprig und altersgesprenkelt.
Natürlich war der Film zuerst eigenartig, schwer faßbar in seinen Anspielungen und voller barocker Erscheinungen, sehr gewöhnungsbedürftig – anders hätte man ihn gar nicht gewollt.
Überfrachtete Großaufnahmen, bedeutungsschwangeres Gestikulieren, Schauspieler, die ihre riesenhaften, abgeknickten Schatten hinter sich herschleiften, und in jeder Einstellung gab es etwas zu entdecken, die Kamerastellung, die Umrisse und Flächen und dann die Aneinanderreihung der Aufnahmen, das Gefühl für rhythmischen Gegensatz, alles bestand aus Raum und Volumen, war Tempo, Masse und Druck.
Bei Eisenstein fällt auf, daß die Kameraeinstellung eine Art Dialektik liefert. Argumente werden angesprochen und ausgeführt, Theorien ziehen über die Leinwand und zerschellen augenblicklich – es gibt eine Menge Gegensätze und Konflikte.
Man scheint einen Film über einen wahnsinnigen Wissenschaftler zu sehen. Er rauscht durch das Bild, in deutlich kontrastierendes Schwarz und Weiß und mehrschichtige Roben gekleidet, und er schwingt eine Atomstrahlenwaffe. Gestalten bewegen sich durch die kahlen Räume irgendeiner unterirdischen Anlage. Sie sind Opfer oder Gefangene, vielleicht Versuchsobjekte.
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