Unterwelt
Ein kurzer Blick auf das Gesicht eines Gefangenen zeigt, daß er schlimm entstellt ist, und das wirkt weniger schockierend als komisch. Er hat den abgeschrägten Kopf, die abgeflachten Kiefer und vorgestülpten Lippen eines Regenwurms – eines Wurms mit menschlichem Pathos jedoch.
In einer Szene, die extravagant, albern, irgendwie daneben und technisch beeindruckend war, alles zugleich, feuert der Wissenschaftler seine Strahlenwaffe auf ein Opfer ab, das im Dunkeln zu leuchten beginnt, zuckend und tanzend, und dann ziemlich kläglich auf seinen Arm starrt, der allmählich wegschmilzt.
Andere Opfer treten auf, Muskeln und Knochen verformt, Schlitze statt Augen, auf Beinstümpfen schlurfend.
Klara dachte an die Strahlungsmonster in japanischen Science-Fiction-Filmen und schaute über den Mittelgang zu Miles, der ein Experte in diesem Genre war.
Hatte Eisenstein die atomare Bedrohung vorhergesehen oder den japanischen Film?
Sie dachte an die prähistorischen Reptilien, die aus dem Schleim mutierten, an die Insekten mit beschädigten Chromosomen, die sich bei irgendeinem Testgelände aus dem Wüstenboden hervorwühlten, Ameisen in der Größe einer ambulanten Leihbücherei – das waren Filme für die Drive-in-Kinos der fünfziger Jahre, wo ein Junge und ein Mädchen sich gegenseitig an Schnallen und Haken herumrupfen, während Bombenbilder ablaufen und gigantische Blutegel und Skorpione am Horizont erscheinen, alle radioaktiv und rachsüchtig, und dann die flüchtenden Massen natürlich, denn am Ende sind diese Kreaturen nicht nur durch die Bombe entstanden, sie bringen sie auch auf eine andere Ebene, und Armeen werden mobilisiert, und Menschenmassen flüchten, und die Sirenen heulen wie Sirenen.
Eisensteins Kreaturen waren völlig menschlich, und das verkomplizierte den Spaß. Sie buckelten und wankten durch die Schatten, buckeltorkelten mit hinterherschleifenden Händen, und man kann sich ja immer noch einreden, daß es in Ordnung ist, über Krüppel und Mutanten zu lachen, solange alle anderen auch lachen, ein Weg, seinen Abscheu zu überspielen, und es lag nicht nur an den verzerrten Zügen und stilisierten Bewegungen und dem eigentümlichen Lip-gloss-Effekt, der einem schon früher auf den Gesichtern der männlichen Schauspieler in Stummfilmen aufgefallen war, sondern auch an der Musik, die war ziemlich plump – melodramatisch aufflammende Geigenklänge.
Ab und zu ein Titel, auf russisch, unübersetzt, nicht daß es was ausgemacht hätte – es sorgte vielmehr für eine närrische Art totaler Verwirrung.
»Wirst wohl klaustrophobisch, wie?« fragte Jack.
Und es stimmte, der Film war so vollkommen in die Perspektive der Gefangenen eingebettet, daß Klara herumzurutschen begann.
»Ich wette, du würdest hundert Dollar drum geben, jetzt draußen im Regen zu stehen und eine Zigarette zu rauchen«, sagte Jack.
»Regnet es?«
»Macht das was?«
Es fiel schwer, der Handlung zu folgen. Es gab keine Handlung. Nur Einsamkeit, Kargheit, gejagte und mit Strahlenwaffen erschossene Männer, und alles geschah in irgendeiner Felsspalte der Niemands-welt. Es gab nicht die klassenübergreifende Solidarität der sowjetischen Tradition. Keine Massenszenen, kein Hauch von sozialer Motivation – die Massen als Held, kolossale Bewegungen von Menschenmengen, mühseligst organisiert und ins Bild gebracht. Das fand Klara enttäuschend. Sie liebte die martialische Architektur riesenhafter, sich bewegender Körper, die Armeen und den Pöbel anderer Eisenstein-Filme, und sie fühlte sich, als wäre sie in einer zweideutigen Filmlandschaft irgendwo zwischen dem sowjetischen Modell und Hollywoods Himmelsgewölbe von Liebe, Sex, Verbrechen und Individualheldentum, von Kulissen und Luxus und traumhaften Toiletten.
Man braucht ja nur an die andere Unterwelt zu denken, einen Gangsterfilm von 1927, der ein rauschender Kassenerfolg war.
Esther sagte: »Ich will eine Belohnung für diese Strapaze.«
Gib's doch zu, du langweilst dich. Klara versuchte, sich von Miles aufmuntern zu lassen. Er befand sich in einem Zustand freudiger Verzückung, jener vollkommenen Hingabe, die ihm gelingt, ihm ermöglicht, sich in Auge und Geist des Films zu verlieren, ganz hineingezogen und bezaubert – auf einer bestimmten Ebene bezaubert, selbst wenn ihm nicht gefällt, was er sieht. Aber sie wußte, das hier gefiel ihm. Es war abseitig und fragmentarisch und billig produziert, angeblich privat, und es gab auch eine Art Spannung, während der Film
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