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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Intrigen, Nahkampf und harter Verhandlungen hatten sie endlich mehrere Rock-Impresarios davon überzeugt, die Schirmherrschaft für diese einmalige Vorführung mit Orchesterbegleitung in einem Haus, das beinahe sechstausend Plätze hatte, mit zu übernehmen.
    »Wie erklärst du dir das Publikum?« fragte Klara. »Viele schwule Männer in diesem Foyer.«
    »Ich denke, du solltest den Film anschauen und dir deinen eigenen Reim darauf machen. Ich kann nur sagen, es hat sich schon frühzeitig herumgesprochen, daß Eisenstein einen Film mit einem starken Thema gedreht hat, und die Filmrollen waren seit Jahrzehnten unter Verschluß, weil sich das Thema auf einer bestimmten Ebene auch mit den Menschen beschäftigt, die im Schatten leben, und die Regierung oder vielmehr Regierungen, die DDR und die Sowjets, haben den Film bis heute unterdrückt.«
    Gedreht vermutlich Mitte der dreißiger Jahre, sporadisch und im geheimen, während einer Phase akuten Niedergangs für Eisenstein. Zu jener Zeit offenkundig ohne Arbeit, von seinen sowjetischen Regiekollegen gedrängt, seine Theorien und persönlichen Meinungen fallenzulassen. Als Exzentriker beschimpft, als mythenselig und politisch unzuverlässig, beschuldigt, die Nähe zum Volk verloren zu haben. Gerüchte kursierten, er sei hingerichtet worden.
    Esther Winship tauchte handtaschenschwingend auf und sagte: »Ich brauch den Film nicht mehr zu sehen. Ich bin jetzt schon hingerissen davon. Dieser Saal ist göttlich. Ich hatte ganz vergessen, daß es ihn gibt. Miles, du siehst aus, als kämst du geradewegs von einem britischen Teenagertreffen in den Sixties.«
    »Wo ist Jack?« fragte Klara.
    »Wo wohl? Wird mir von deinem Hemd oder von deinem Schlips so schwindlig?«
    »Danke sehr, Esther.«
    »Er genehmigt sich einen Drink um die Ecke.«
    Das Publikum war beschwingt von der herrschenden Zweideutigkeit. Ganz gleich, welcher sexuellen Neigung man frönte, man war hier, um die Kontraste zu genießen. Man denke nur an das Verhältnis zwischen dem Film und dem Saal, in dem er nun vorgeführt wurde – das Werk eines anerkannten Meisters des Weltfilms, gezeigt im Umfeld der Rockettes und der mächtigen Wurlitzer, das unglaublich camp war. In einem Vorführsaal von einer gewissen beeindruckenden Schönheit, ja, einem atemberaubenden Ort, trotz all seiner Übertreibungen und Eitelkeiten, mit Medaillons aus poliertem Messing an den äußeren Wänden, mit schmucken Ausstellungsvitrinen in der Kassenhalle, mit vernickelten Bronzegeländern hier im Foyer, einem Raum, der an den stillen, versunkenen Salon eines Ozeandampfers erinnerte. Und womöglich ein Film, bitte nicht zu vergessen, der von Manierismen nur so strotzen wird, ganz gleich, wie ernsthaft das Niveau des Ganzen ist. Zumindest steht das zu hoffen. Hatte Iwan der Schreckliche nicht auch derart komisch überladene Szenen, bei aller unleugbaren Macht der Montage, daß man mehr oder minder gleichzeitig lachen und nach Luft ringen mußte?
    »Bislang hat praktisch niemand den Film gesehen«, sagte Miles. »Vier von uns, von der Gruppe, haben ihn gesehen und ein halbes Dutzend Promoter und hohe Tiere aus der Branche, und das war's auch schon auf unserer Seite des Eisernen Vorhangs.«
    Miles kannte Eisenstein in- und auswendig. Mehr als der menschlichen Gesundheit zuträglich war. Er kannte die Szenenfolge von Potemkin so ungefähr im Schlaf. Den tödlichen Gleichschritt der schwarzen Stiefel. Die weißen Uniformjacken der Soldaten. Die Mutter, ihre Arme matt vor dem Leib. Die hinteren Räder des Kinderwagens, die aus dem Bildausschnitt rollen.
    Aber bei diesem Film gab es einiges, das keiner zu wissen schien. Wo er gedreht worden war. Wie er gedreht worden war – logischerweise ohne offizielle Unterstützung. Und warum er keinen Ton benutzte. Eine These verwies nach Mexiko. Die Irrsinnsmenge Material, die er ganz offen für sein Mexiko-Epos verbrauchte, war der Deckmantel für ein subversives Unterfangen, so lautete die These, und fertig.
    »Ehrlich gesagt habe ich nicht ein Fitzelchen von dem gesehen, was er sonst gemacht hat«, sagte Esther. »Aber ich bin ihm mal begegnet, wißt ihr.«
    Miles drehte sich langsam zu ihr um.
    »Du hast Eisenstein gekannt?«
    Ein Blick, der sie völlig neu einordnete.
    »Bin ihm kurz begegnet.«
    »Wo?«
    »Hier. Ich war natürlich noch sehr jung. New York. Nicht mal zwanzig, glaube ich. Er saß für ein Porträt, und meine Eltern kannten den Maler, und ich kam mit.«
    »Da müssen wir mal drüber

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