Unterwelt
schien die Zuschauer zu durchziehen, Reihe um Reihe weitergegeben in jener mysteriösen Telemetrie des Publikums. Oder vielleicht gar nicht mal so mysteriös.
Das ist doch ein Film über uns und die, oder?
Sie können sagen, wer sie sind, ihr müßt lügen. Sie kontrollieren die Sprache, ihr müßt improvisieren und verhüllen. Sie legen die Grenzen eurer Existenz fest. Und was an diesem Programm camp war, die Choreographie und einiges von der Musik, ähnelte jetzt geradezu einem heimtückischen Angriff auf die herrschende Kultur.
Du versuchst, dir Eisenstein im Untergrund des bisexuellen Berlin vorzustellen, vor fünfundvierzig Jahren, mit seinem Kuppelkopf und den leicht verkümmerten Gliedmaßen, dem Haar, das ihm in clownesken Büscheln aus der Kopfhaut sproß, einen Mann mit bürgerlichen Skrupeln und einem Talent zur Verdrängung, und da ist er im Kit Kat oder im Bow Wow, verrufenen, hitzigen Kellern, unvorstellbar in Moskau, und er tratscht über Hollywood-Klatsch mit Männern im Fummel.
Ich schätze Judy Garland wirklich sehr, hat er einmal gesagt.
Aber du willst doch gar nicht so modisch-allwissend sein, oder? Er war ein Dynamo der Ideen und ehrgeizigen Projekte, aber es ist nicht gesagt, daß er über die sexuelle Entschlossenheit verfügte, um wirklich zur Sache zu kommen, ob nun mit Männern oder mit Frauen.
Schau dir mal die Gestalten in der Totalen am niedrigen, dunstigen Horizont der Ebene an.
Eisenstein will einen doch eigentlich nur die Widersprüche des Daseins sehen lassen. Man schaut sich die Gesichter auf der Leinwand an, und man sieht die verstümmelte Sehnsucht, die innere Zerrissenheit von Menschen und Systemen, und wie Kräfte aufeinanderprallen und sich ineinander verhaken, eine Abweichung vom Gleichmaß erzwingen, die bleibende Spuren hinterläßt.
Du merkst, daß das Orchester schon seit einiger Zeit schweigt. Alle Kapuzen sind abgezogen, die Expeditionsmitglieder stapfen in endlosem Gleichschritt voran, gefolgt von übellaunigen Hunden mit Triefaugen. Dann hörst du die Melodie wieder, noch einmal, den vertrauten Marsch von Prokofjew, nicht von der pseudoheroischen Orgel, sondern vom ganzen Orchester, und die Schwingung ist ganz anders, vergiß die amüsante Radio-Reminiszenz, jetzt sind da nur noch Wachsamkeit und Unterdrückung, das FBI in Krieg und Frieden, bei Tag und Nacht, deine eigene Bürokratenkohorte des Gesetzes.
Der Marsch dauerte nur anderthalb Minuten, aber wie dunkel und stark, wie unweigerlich dem Untergang geweiht waren die rollenden Blechbläser, und dann kam lange Stille und eine weiße Leinwand und schließlich ein Gesicht, das sich in eine Reihe von Überblendungen verwandelt, seine Verkropfungen und Verknorrungen verliert, ein schrumpliges Auge, das sich wieder öffnet, und das war furchtbar sentimental, na gut, aber auch wundervoll, eine Sequenz, die außerhalb der eigentlichen Handlung stattfand, ein deutlicher, sichtbarer Wunsch, der einen unmittelbar mit dem Geist des Films verband, und der Mann streift seine Male und Narben ab und scheint jünger und blasser zu werden, bis sich das Gesicht schließlich in der Landschaft auflöst.
Das Orchester stieg langsam empor im Graben, jetzt war die Musik Schostakowitsch, ganz sicher, wie raumgreifend und himmelwärtig, lyrisch wirbelnd, vogelwirbelnd über der weiten Ebene.
Dann war es zu Ende. Es ging nicht zu Ende, es brach einfach ab. Eine Landschaft aus Hunden im Vordergrund und Gestalten in der Ferne, ihrem Marsch hingegeben. Klara blieb auf ihrem Sitz, nicht anders als alle Anwesenden, und sie verspürte einen eigentümlichen Verlust, wie wenn du als Kind mitten am Tag aus dem Kino kommst, und die Straßen sind die schiere Hektik, böses Blendlicht, jede Oberfläche intensiv und kreischend, Leute in schreienden Kleidern, die nicht passen.
Miles tauchte auf, und sie gingen in eine Bar, die Jack kannte . J ack kannte alle Bars in Midtown, er kannte die Steakhäuser und den besten Käsekuchen und wo du eine Zwiebelsuppe kriegst, daß du glaubst, du bist in Les Halles, und er erzählte lustige Geschichten über seine frühe Zeit im Theater District, als er straßauf, straßab neue Shows anpries, aber Klara hörte nicht zu.
Der Film umhüllte sie in all seinen Fetzen und Windungen. Sie hatte ein Gefühl, als trüge sie statt Rock und Bluse den Film. Sie hörte Esther lachen, und es klang wie drei Zimmer entfernt. Miles erzählte eine Geschichte, an der sie sich beteiligen mußte, aber sie kriegte die Details
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