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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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selbst nicht ganz sicher. Das war doch gar nicht sie, oder?
    Eine andere Frau hätte das Verlockende der Anonymität spüren können. Einen Mann in einem Zimmer von tausend Vorgängerpaaren zu treffen. Die persönliche Vergangenheit in gesichtsloser Motelhingabe abzustreifen. Aber dies war kein Motel, immerhin dafür konnte man dankbar sein.
    Sie war nervös, stand in Jeans und BH am Fenster. Sie waren erst bis zum BH gekommen. Da machte sie eine Pause, um zu reden, ihm klarzumachen, wie sie sich fühlte. Sie war nicht sexuell verängstigt. Doch ja, sie war sexuell verängstigt, aber hauptsächlich im allgemeinen Sinne, sagte sie, denn ihr war nicht ganz wohl dabei, einen Mann in einer Umgebung voll vorbestimmter Erwartungen zu treffen – ein fremdes Bett am Ende der Welt. Sie hatte eine Art, sich selbst zu sehen, einen Argwohn gegenüber Dingen, die sich nicht richtig anfühlten. Es war nicht besonders sauber hier, damit fing es schon mal an. Und dann das Mädchen unten, nach innen oder außen schielend oder was auch immer. Sie sprach aufrichtig zu ihm mit ihrer kleinen, etwas piepsigen Stimme, und er lag im Bett und hörte zu, wartete darauf, daß sie sich an die Vorstellung gewöhnte, nach einem Flug quer durchs Land in einem irgendwie zufälligen Zimmer zu landen und sich von allem Vertrauten abgeschnitten zu fühlen.
    Er hörte zu und wartete und begriff schließlich, daß einige der Dinge, die sie über sich sagte, auch auf ihn zutrafen. Er begriff es, so wie man Dingen auf die Spur kommt, die man schon immer irgendwie gewußt hat.
    Sie stand am Fenster. Über ihre Schulter hinweg konnte er die Kuppel des Observatoriums sehen, oben auf dem Berg ins letzte Licht getaucht.
    Es gab Männer, die vor hundert Jahren durch diese Wüsten gewandert waren, die Renitentes, sie sangen und fasteten und geißelten sich mit Hanfpeitschen oder den geflochtenen Fasern der Yuccapflanze oder mit Kordelpeitschen, la cuerda, einer kleinen Peitsche aus dichtgeknoteter Wolle.
    Janet hatte keinen Blick für die Wüste. Janet schien sie auf eine dunkle, persönliche Weise abzulehnen, alles zu groß, zu leer. Die Wüste besaß die Kühnheit, real zu sein.
    Sie fuhren und redeten.
    »Erklär mir noch mal, warum wir da hinfahren.«
    »Es ist ein Naturpark mit Wildtieren und ein Schießplatz.«
    »Das heißt, wenn uns das eine nicht umbringt, dann das andere.«
    Er griff hinüber und legte die Hand auf ihr Bein.
    »Wir wollen allein sein«, sagte er.
    »Wir könnten in Boston allein sein.«
    »Da gibt es aber keine Dickhornschafe. Wir wollen Dickhornschafe in freier Wildbahn sehen.«
    »Und was machen wir, wenn wir sie sehen?«
    »Dann sind wir glücklich. Man bekommt sie nämlich selten zu sehen. Und da, wo wir hinfahren, ist es sehr abgelegen. Wir können froh und glücklich sein. Das sind wunderschöne Tiere, die kein Mensch je zu sehen kriegt.«
    Sie rückte näher an ihn heran. Sie mochte Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit nicht, und auch wenn sie ganz allein auf der Straße fuhren, so war es doch nicht ihre Wohnung, nicht mal ein Zimmer in einer Pension mit abgeschlossener Tür und zugezogenen Vorhängen, nachdem sie es erst einmal geschafft hatte, die Vorhänge zuzuziehen, aber sie rückte trotzdem ein bißchen näher heran und sagte ihm, wenn sie gewußt hätte, daß er ihren Schenkel streicheln würde, hätte sie doch nicht so dicke Jeans angezogen, nicht wahr?
    Matt fand, er sei noch nie so glücklich gewesen. Er war glücklich, wenn sie sich an ihn schmiegte, und vielleicht noch glücklicher, wenn sie laut aus der kleinen Bibliothek vorlas, die er in Vorbereitung für die Reise zusammengestellt hatte.
    Sie sahen Habichte, die sich auf Telefonmasten niedergelassen hatten, und sie schaute in dem Vogelbuch nach und sagte, es seien Wanderfalken – richtige Falken, keine Habichte, und das machte ihn noch glücklicher.
    Die Landschaft machte ihn glücklich. Sie war eine Herausforderung für den lebenslangen Städter, aber mehr noch, die Verwirklichung einer halbgeträumten Vision, von der Andersartigkeit des Westens, jenem seltsamen großartigen Ding, das ganz verschmolzen war mit Nation und Weite, mit Kühnheit und Geschichte und wer man ist und woran man glaubt und welche Filme man als Heranwachsender gesehen hat.
    Nach einer Weile sagte er zu ihr, sie solle doch die Nase aus dem Buch nehmen und sich die Landschaft anschauen, aber die Landschaft bestand nur aus leeren Räumen und einsamen Straßen, und das machte sie furchtbar

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