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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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zu sehen, der sein Werk fotografierte.
    Er behielt gern die Augen der Bahnsteigleute im Blick, um zu sehen, wie sie auf seine Arbeit reagierten.
    Seine Buchstaben und Zahlen erzählten eine Geschichte vom Leben in den Mietskasernen, gut und schlecht, aber meistens gut.
    Die Vertikalen des Buchstabens N konnten Dealer sein, die einen langen, diagonalen Stapel Stoff bewachten, oder Schulmädchen auf einer Spielplatz-Rutschbahn oder zwei Ballspieler auf dem Sandplatz, die den Schläger schräg zwischen sich hielten.
    Keiner konnte ihm was. Er überkaiserte jeden Graffitimaler in der Stadt.
    Sie hatten Dutzende von Dosen fertig dastehen, alles vorbereitet, und er rief nach einer Farbe, und sie schüttelten die Dose, und die Kugel machte Klick.
    »Wo ist mein Perrier?« fragte er.
    Aber du mußt auf einem Bahnsteig stehen und ihn kommen sehen, sonst kannst du das Gefühl nicht verstehen, das ein Graffitimaler kriegt, wenn der Zug Nummer 5 die Rattenrennbahn runtergerattert kommt und aus dem Tunnel knallt und dann wop-pop auf die Hochbahngleise, und plötzlich, da, Moonman, der mitten in der Bronx durch den Himmel reitet, über das ganze verbrannte und verrostete Land, und da spricht die Kunst seiner Straßen, von Bird bis heute, und jetzt könnt ihr uns nicht mehr nicht sehen, ihr könnt nicht mehr nicht wissen, wer wir sind, jetzt sind wir total bekannt, Momzo Tops und Rimester und ich, Wir sind ne berühmte Bande, is ja schließlich keine Schande, und der Zug rappelt über die vermüllten Straßen und an den blinden Fenstern der vielen leeren Mietskasernen vorbei, wo überall Leute drin leben, auch wenn ihr sie nicht seht, aber unsere tags und Comicfiguren müßt ihr sehen, unsre scharfen Reimgedichte, das ist die Kunst, die nicht stillstehn kann, die Tag und Nacht über eure Augäpfel klettert, die flackernde, hüpfende Kunst der Slums und Halden, die euch solche Farben ins Gesicht klatscht – nach dem Motto, Dein Film bin ich, du Wichser.
    Sie kamen aus der Eingangshalle herein, quollen die Seitengänge hinab zu ihren Sitzen, die gespannte Erwartung des frühen Abends hatte sich inzwischen weitgehend erschöpft, sie ließen sich schnell nieder, ganz geschäftsmäßig, und die zweite Hälfte des Films begann.
    Klara schaute sich nach Miles um. Aber Miles erschien nicht. Er hatte offenbar die Ungeduld seiner Gäste gespürt und beschlossen, bei den Cineasten in der Privatkabine oben zu bleiben.
    »Soll das heißen, wir sind unwürdig?« sagte Esther.
    Man glaubt, eine Flucht mitzuerleben. Gestalten graben sich einen Tunnel nach oben, in eine dunkle Regennacht hinein. Eine lange Szene mit Silhouetten und gelegentlichen Nahaufnahmen, Augen, die ins Dunkel spähen.
    Dann schwang ein Scheinwerfer über den Orchestergraben und kam auf einem Seitenvorhang an der Nordwand zum Stillstand, die etwas höher als die Bühne gesetzt und einige Meter entfernt war. Und man wußte, was man sehen würde, eine halbe Sekunde, bevor man es sah, und das war vielleicht ein Stimmungskick, absolut. Die Vorhänge teilten sich, und der hufeisenförmige Spieltisch von New Yorks letzter großer Theaterorgel, der mächtigen Wurlitzer, stand eingerahmt und glänzend in dem dunklen Saal.
    Der Organist war ein schmächtiger, weißhaariger Mann, der in der Nische zu schweben schien, den Rücken zum Publikum, zauberisch gerade durch seine Kleinwüchsigkeit, und er trat das Donnerpedal genau in dem Augenblick, als eine Gestalt auf der Leinwand zurückwich, sich vor einer Gefahr von oben duckte, und Gelächter fegte durch den Zuschauerraum.
    Die Gefangenen setzten ihren Aufstieg fort, in grimmiger Nähe zueinander.
    Der Organist schlug eine Reihe Töne an, die etwas unheimlich Vertrautes hatten, etwas, das einen auf gespenstische Weise zu seinem Nachttischradio zurückbringt, zu den Gerüchen in der Küche und den unverwechselbaren Falten des Linoleums beim Kühlschrank. Es war ein Marsch, spritzig ist das rechte Wort, und er funktionierte als ironischer Kontrapunkt zu den Silhouetten im Vordergrund der Leinwand, den mit mechanischer Willfährigkeit kletternden Figuren, und Klara spürte die Musik unter der Haut und konnte sie praktisch schmecken, war aber nicht in der Lage, das Stück zu benennen oder den Komponisten zu identifizieren.
    Sie knuffte dem alten Jack auf den Arm.
    »Was spielt er da?«
    »Prokofjew.«
    »Prokofjew. Natürlich. Prokofjew hat für Eisenstein komponiert. Das wußte ich. Aber was ist das für ein Marsch?«
    »Dieses

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