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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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großen Depot etwa anderthalb Meilen südlich von hier. Die lassen die Züge unter Sprinklern durchfahren, die sie über die Gleise gebaut haben. Seine ganze sprayverrückte, unbezahlte Zwei-Uhr-früh-Arbeit in Minuten weggeätzt. Orangensaft kannst du vergessen, Mann. Das war der neue Graffitikiller, irgendeine üble Dreckchemikalie von der CIA.
    Als würde man ein Foto vom Regal stoßen und einer würde sterben. Bloß ist man in diesem Fall selber der auf dem Foto.
    So ein Gefühl hatten manche Graffitimaler bei ihrer Arbeit.
    Hier gab es ungefähr ein Dutzend Rangiergleise. Ismael und seine Crew gingen ans äußere Ende, zum letzten Gleis, mit Blick auf den Platz, wo die Iren irischen Fußball spielten. Sie suchten sich einen Glatten aus – einen alten Zug mit bemalbarer Oberfläche, viel besser als die Riffeldinger, die jetzt auf den Markt kamen.
    Die Crew reihte die Farben auf, und er ging an die Arbeit. Er hatte so ein Rustoleum-Gelb, das er neuerdings benutzte, ein irres Kanariengelb, und die Crew befestigte verschiedene Düsen an den Dosen, damit er die Breite und Dichte der Striche variieren konnte.
    »Wir ha'm Lourdes gesehn«, sagten sie zu ihm.
    Lourdes war die Frau, mit der er früher zusammengewohnt hatte, zwei Jahre älter als Ismael, mehr oder weniger, und im Augenblick wahrscheinlich zwanzig Pfund schwerer.
    »Hat dich wer gefragt, wen du gesehen hast?«
    »Sagt, sie will mit dir reden.«
    »Du Schwuchtel, hat wer gefragt? Hab ich gefragt?«
    Ismael wurde selten wütend. Er war keiner von der wütenden Sorte. Er hatte den nachdenklichen Kopf eines Alten, der im Barrio unter einer Markise sitzt und Domino spielt, während die Feuerwehrautos die Straße hochschleichen, aber wenn die Jungs sich einbildeten, daß sie ausmalen durften, sobald er den Stil und die Farben festgelegt hatte, dann mußten sie erst mal lernen, wie man sich im Depot benimmt.
    »Wo is mein Perrier, he? Ihr wollt mit Ismael Muñoz arbeiten, dann gebt ihm sein Perrier und vergeßt die Nachrichten von irng-wem.«
    Sie arbeiteten ohne unnötiges Gerede die Nacht durch. Sie reichten ihm die Spraydosen. Sie schüttelten die Dosen, bevor er sie bekam, und das Klicken der Aerosolkugel war praktisch das einzige Geräusch im ganzen Depot, abgesehen vom Sprayen selbst, wenn sich die Farbschicht zischend über die alten Eisenflanken des Zuges legte.
    Der Mann, der um ihn herumgriff und sagte, Darf ich mal.
    Moonman 157. Zähl die Zahlen zusammen, und du kriegst dreizehn. Denn das ist die Straße, wo er wohnt, oder wohnte, jetzt wohnt er an vielen Orten, es gehört richtig zu seinem tag dazu, dafür ist er bekannt, und Pech ist ein Ego-Trip, auf den man sich verlassen kann, stell dir mal einen Zug vor, der aus dem Tunnel kommt und zur Hochbahn wird – stell dir deine tags im hellsten Tageslicht vor, wie sie über die abgefackelten Grundstücke rollen, wo du geboren und aufgewachsen bist.
    Die Crew schüttelte die Dosen, und die Kugel machte Klick.
    Er stand auf dem Trittbrett eines Zuges und beugte sich zu dem daneben abgestellten Zug hinüber und signierte ihn von den Fenstern aufwärts.
    Und er ging die unter seinem Gewicht bröckelnde Schiefertreppe hinunter, seine Hand an dem rostigen Rohr, das als Geländer diente, und spürte die Stimmung des Tunnels am jeweiligen Tag. Mal war es eine Koks-Stimmung, Ismael nahm keine Drogen, mal eine Speed-Stimmung, die durch den Tunnel zog, jemand hat was gekauft und teilt es, oder eine geisteskranke Stimmung, was oft vorkam. Und immer eine Braune-Ratten-Stimmung, denn es gab sie in Rattenhordenmengen, eine endlose Quelle von Geschichten, über die Größe der Ratten und ihre Furchtlosigkeit, wie sie die Leichen der in den Tunneln Gestorbenen auffraßen und ihrerseits von dem Rattenmann gefressen wurden, der im sechsten Untergeschoß unter der Grand Central Station lebte, er killte und kochte und aß eine Ratte pro Woche – Gleiskaninchen wurden sie genannt.
    Mit anderen Worten, um einen ganzen Zug in ein Wandgemälde zu verwandeln, brauchst du eine komplette Nacht und einen Teil der folgenden und kein verschlurftes Quarkgelaber.
    Und die Stimmung, wer man eigentlich ist, Tag für Tag in seinem Kopf, eine Stimmung, die er auf Straßenniveau mit niemandem teilen konnte, und nachts im Bett eines Cousins einzuschlafen oder im Lagerkeller irgendeiner Bodega, wo Ismael Muñoz bekannt war und einen angemessenen Schlafplatz bekam, und das Dingdong der Türen zu hören, und den Mann aus Stockholm in Schweden

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