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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Einwanderers im geliehenen Anzug.
    Er kurbelte den Film über das Leuchtpult. Wenn er einen Punkt auf dem Film entdeckte, versuchte er ihn zu bestimmen. Es war ein Lkw oder ein Lkw-Halteplatz oder eine Tunneleinfahrt oder eine Geschützstellung oder eine Familie, die beim Picknick Hamburger grillte.
    Es war heiß und eintönig, und ständig starteten und landeten Flugzeuge, Kampfhubschrauber, Transportflugzeuge, Mittelstreckenbomber, Tankerflugzeuge, Kampfjets, VIP-Jets, eine kleine rosa Piper mit einem Ausbilder und einem Studenten an Bord, und schließlich umgebaute Frachtflugzeuge, die den Dschungel mit einem Unkrautvertilgungsmittel aus schwarzen Fässern, auf denen orangefarbene Markierungsstreifen waren, besprühten.
    Es gab Gerüchte über ganze Kriege woanders, nicht weit im Osten, oder war es im Westen?
    Die Fässer erinnerten an Dosen mit gefrorenem Minute-Maid-Orangensaftkonzentrat, angereichert mit einem wildgewordenen DNA-Strang. Und die Substanz in den Fässern enthielt, den Gerüchten zufolge, ein krebserregendes Mittel.
    Er hörte die Gerüchte und die Granaten und spürte die Monsunhitze und hörte den Universalslogan des Krieges.
    Bleib bekifft, Mann.
    Er war als Freiwilliger nach Vietnam gegangen. Er hatte sich das mit dem Krieg hin und her überlegt, aber gefunden, daß er das tun mußte, als eine Art der Selbstvergewisserung – bleib aufrecht, sei tapfer, antworte, wenn dein Land ruft. Aber da war noch etwas anderes, die ältere, im Blut liegende Kraft namens Familie.
    Er konnte seinem Verantwortungsgefühl nicht entrinnen. Dem mußte er sich stellen, dazu war es da. Er wollte nicht abhauen, sich verkrümeln, drücken, verweigern, nicht billig davonkommen, desertieren, kneifen, weglaufen, nach Kanada, Schweden oder San Francisco fliehen, so wie es sein Alter gemacht hatte.
    Wenn er einen Punkt auf dem Film entdeckte, übersetzte er ihn in Buchstaben, Zahlen, Koordinaten, Netze und ganze Wissenssysteme.
    Om mani padme hum.
    In Wirklichkeit hüpfte der Hund überhaupt nicht, sondern beobachtete nur, mehr oder weniger verächtlich, das vorbeisegelnde Frisbee.
    Ein Punkt war ein visuelles Mantra, ein Objekt, das keine Eigenschaften hatte außer seinem Standort. Das Juwel im Herzen des Lotus.
    Er lag in seinem Schlafsack, aber er schlief nicht. Er wollte Gesellschaft und weckte Janet. Er steckte den Arm aus dem Schlafsack und griff hinüber und schüttelte sie wach.
    »Ich will dieselben Dinge wie du.«
    »Ist gut, Matthew.«
    »Ich möchte, daß wir von vertrauten Dingen umgeben sind. Ich finde das aufregend. Ich will sofort damit anfangen.«
    »Du solltest warten. Bleib, wo du bist. Arbeite noch ein Jahr in diesem Beruf. Mal sehen, was passiert«, sagte sie.
    »Ich will mir Kosenamen für die Kinder ausdenken. Weißt du? Ich möchte eine Umgebung für uns. Ich möchte Fotos, Silberzeug, Dinge, die wir eines Tages weitergeben werden. Ich möchte darüber reden, was es zum Abendessen gibt. Magst du überbackene Muscheln? Wir haben kaum je über Essen geredet, du und ich.«
    »Bleib, wo du bist«, sagte sie ihm. »Übereile nichts.«
    »Ich finde das aufregend. Ich wünschte, es würde nicht so lange dauern, hier wieder rauszukommen. Am liebsten würde ich auf der Stelle losfahren.«
    »Schlaf weiter«, sagte sie ihm.
    »Wir haben so vieles zu bereden.«
    Sie war innerhalb einer Minute eingeschlafen. Matt lag da, hilflos seinen rasenden Gedanken ausgeliefert. Am Ende begriff er, daß er nicht würde schlafen können, und beschloß, den Sonnenaufgang über der Wüste anzuschauen.
    Er zog sich die Hose und einen Pullover über und ging nach draußen, etwa fünfzig Meter hinter den Bunker, wo er die Taschenlampe ausknipste.
    Dann setzte er sich auf die Erde und wartete.
    Er erinnerte sich, wie er sich in dem Sessel auf der Party der Bombenköpfe gefühlt hatte, eingesperrt in ein Schwerkraftfeld, der Kopf vor Argwohn brummend.
    Er dachte an das Nixon-Foto und fragte sich, ob der Staat die Paranoia des einzelnen angenommen hatte oder umgekehrt.
    Er erinnerte sich, wie er sich beim Kurbeln des Films über das Leuchtpult gefühlt und sich gefragt hatte, wo die Punkte miteinander verbunden waren.
    Denn alles ist letztlich miteinander verbunden oder scheint zumindest so, oder es scheint nur so, weil es auch so ist.
    Am Leuchtpult war er die Parodie der altbekannten Gestalt im Keller, die Parodie des einsamen Erfinders, der sich über seinen Arbeitstisch beugt, die Nadeln, Federn und Drähte irgendeiner

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