Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
Vom Netzwerk:
doch verlorene Liebesmüh, oder vielleicht auch nicht so merkwürdig – die Lichter blitzten, und die Musik ließ die Wände wackeln.
    Es war der Dachterrassen-Sommer, immer noch, und sie saß im dichten Schatten einer Weinlaube auf einem Dach in Chelsea, Rotholzpfeiler und Dachbalken und ein Gitterwerk aus Zedernholz, das knochengrau verwittert war.
    Ein Dichter ging übers Dach, er kam vom hinteren Ende des Dachs über die dünne Schieferfläche.
    Er sagte: »Die schreiben den Namen Marie.«
    Und Klara schaute durch die vordere Öffnung der Laube, die von breiten, faltigen Blättern umrahmt war, Rebenlaub von gottweiß-weicher Sorte einheimischer Reben, und sie sah den Rauch eines Flugzeugs, Buchstaben, die den Namen Marie an den Himmel schrieben.
    Und das World Trade Center, das am südlichen Rand emporwuchs, die Türme siamesisch, wenn man sie von diesem Blickwinkel aus sah, an der Taille verbunden durch einen Transportkran.
    Wie ermutigend, daß jemand dieses Ding baute, so viel Holz und Erde fünf schmale Stockwerke hochschaffte, die Pfeiler und Querbalken errichtete, und die Reben wuchsen aus halben Fässern heraus, alten, fleckigen Whiskeyfässern von großem Umfang, und sie saß mit drei anderen an einem Tisch, aß Nachos und trank Sangria, nein, das taten die anderen – Klara trank Wein lieber pur.
    Es war der Sommer der blauschwarzen Nächte, vieldeutiger Donner im Osten, heiser und falsch, und das Gitter der City unter ihnen – ein Typ schlägt seiner Geliebten den Kopf ab, steckt das Ding in eine Schachtel und bringt es im Zug nach Queens.
    Und nicht zu vergessen der Dichter, betrunken auf einer schmiedeeisernen Bank, und die kleine merkwürdige Frau, die ihn wie besessen fotografierte.
    Klara beobachtete, wie der Rauch des Himmelsschreibers sich langsam auflöste und forttrieb. Eine Katze lief am äußersten Ende über das Sims, eine Streunerin aus den Seitenstraßen und Hintergärten, und sie wußte nicht warum, das weiß man nie, aber irgendwie gehörte ihre Mutter zu diesem Augenblick, wütend über irgendwas, und auch ein Nachbar mit Spezialschuh, ein Mann mit einem hohen Schuh, einem orthopädischen Schuh, Dinge, Umrisse, Massen, Erinnerungen, all die Flechtarbeit nicht abgestimmter Zustände.
    Sogar vergiftete Luft läßt einen Frauennamen schweben.
    Miles nahm sie ins Studio eines Videokünstlers mit, den er kannte. Na gut, kein Studio, sondern eine normale Reihe von Räumen voller Apparate und Fernsehgeräte, hier wohnte und arbeitete der Knabe. Die Leute trudelten langsam ein. Es waren schon welche da, und andere trudelten ein, und in der Luft lag eine durchdringende Duftnote, das Uraroma von gerolltem und gemeinsam gerauchtem Marihuana, ein bevorstehendes Ereignis lag in der Luft, eine Mitternachtsfilmvorführung etwa, nur war die Gruppe nicht sehr locker – etwas knopfäugig, diese Leute, mißtrauten ihrer eigenen Erwartung.
    Sie saßen hauptsächlich auf dem Boden. Es gab ein paar Klappstühle und ein Sofa in einem Zimmer, und einige Leute standen zusammengedrängt in den Ecken, aber die meisten saßen auf dem Boden voller Natronflecken und unsäglichem Siff. Fernseher waren überall in der Wohnung aufeinandergestapelt, andere Geräte standen einzeln auf Fernsehtischen mit Exemplaren des TV Guide, es gab Fernseher mit Hasenohren und ein paar alte Mahagonitruhen und jede Bildschirmgröße, vom kleinsten importierten Augapfel bis zum großartigen Bühnenformat des Haushaltsgottes.
    Und eine ganze Wand in einem Zimmer – eine TV-Wand, etwa hundert identische Fernseher, vom Boden bis zur Decke gebaut.
    Klara und Miles standen in einer Ecke, und sie hatte, lange bevor sie eintrafen, schon begonnen, sich von dem Ereignis zu distanzieren, denn irgendwann hatte sie erfahren, was da auf sie zukam, mußte es aber doch sehen, egal, wie daneben es war.
    Es war ein seltenes und seltsames Ereignis. Es war die Vorführung eines schwarzkopierten Achtmillimeter-Heimvideos, das ungefähr zwanzig Sekunden lang lief. Vermutlich etwas über zwanzig Sekunden. Der Streifen war bekannt als der Zapruder-Film, und fast niemand außerhalb von Regierungskreisen hatte ihn gesehen.
    Natürlich hatte das Ereignis ein besonderes Fieber, den Kick großer Intensität. Aber auch wenn die Anwesenden ihr Hiersein als Glücksfall betrachteten, so empfanden sie doch eine vage Angst davor, die Temperatur der Sixties mit ihrem triphaften Kick zu messen.
    Das Video lief zuerst in einem Zimmer, in den anderen nicht, und es war

Weitere Kostenlose Bücher