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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Schnürsenkel identifiziert.«
    »Ja«, sagte ich.
    Mit dem Finger fuhr er an einem Lederstreifen entlang, der oben über den Schuh ging und dann unter den Schnürsenkeln entlangführte.
    »Was ist das?« fragte ich.
    »Sag du's mir. Was ist das?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Das ist die Einfassung.«
    »Die Einfassung.«
    »Die Einfassung. Und das steife Stück oberhalb vom Absatz. Das ist die Kappe.«
    »Das ist die Kappe.«
    »Und dieses Stück zwischen der Einfassung und dem Streifen oberhalb der Sohle. Das ist das Seitenleder.«
    »Das Seitenleder«, sagte ich.
    »Und der Streifen oberhalb der Sohle. Das ist der Rahmen. Sprich mir nach, Junge.«
    »Der Rahmen.«
    »Wie die Alltagsdinge im verborgenen liegen. Weil wir nicht wissen, wie sie heißen. Wie heißt das vordere Stück, das den Rist bedeckt?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Du weißt es nicht. Es heißt das Vorderblatt.«
    »Das Vorderblatt.«
    »Sag es.«
    »Das Vorderblatt. Das vordere Stück, das den Rist bedeckt. Ich dachte, ich sollte nicht auswendig lernen.«
    »Du sollst keine Gedanken auswendig lernen. Und du sollst uns nicht allzu ernst nehmen, wenn wir die Nase über routinemäßiges Lernen rümpfen. Die Routine baut den Mann mit auf. Du steckst die Schnürsenkel durch die was?«
    »Das sollte ich aber wissen.«
    »Na klar weißt du das. Die Lochung auf beiden Seiten und oberhalb der Zunge.«
    »Mir fällt das Wort nicht ein. Öse.«
    »Vielleicht laß ich dich doch am Leben.«
    »Die Ösen.«
    »Ja. Und die Metallhülle an der Spitze jedes Schnürsenkels.«
    Er schnippte mit dem Mittelfinger danach.
    »Das fällt mir auch in einer Million Jahren nicht ein.«
    »Das Senkelblech.«
    »Nicht in einer Million Jahren.«
    »Senkelstift oder Senkelblech.«
    »Das Senkelblech«, sagte ich.
    »Und der kleine Metallring, der den Rand der Öse verstärkt, durch die das Senkelblech geführt wird. Wir machen hier gerade Sprachphysik, Shay.«
    »Der kleine Ring.«
    »Siehst du ihn?«
    »Ja.«
    »Das ist der Ösenkranz«, sagte er. »O Mann.«
    »Der Ösenkranz. Du sollst ihn lernen, kennen und lieben.«
    »Ich werde wahnsinnig.«
    »Dies ist das endgültige Geheimwissen. Und wenn ich meinen Schuh zum Schuster bringe, und er steckt ihn auf eine Form, um ihn zu reparieren – einen Block, der wie ein Fuß geformt ist. Wie heißt der?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Der Leisten.«
    »Mir platzt der Kopf.«
    »Die Alltagsdinge sind das verkannteste Wissen. Diese Bezeichnungen sind lebenswichtig für deinen Fortschritt. Habituelle Dinge. Wenn sie nicht wichtig wären, würden wir nicht so ein großartiges lateinisches Wort dafür benutzen. Sag es«, sagte er.
    »Habituell.«
    »Ein außergewöhnliches Wort, das die Tiefe und Reichweite des Gemeinplatzes erahnen läßt.«
    Sein weißer Kragen hing locker unter seinem Adamsapfel, und am Hals wurde die Haut schlaff und zäh, und es schien ihn unvorbereitet zu erwischen, das Alter, spät, aber zügig.
    Ich zog mir die Jacke an.
    »Ich wollte dir ein Buch mitbringen«, sagte er.
    Seine Hände waren allerdings noch jung, weich, kreidig, babyrosig. Auf einem Tisch in der Ecke stand ein Schachbrett, die schwarzen und weißen Figuren waren aufmarschiert.
    »Komm morgen zum Upper Red, dann fisch ich's dir raus.«
    Upper Red war der Wohnsitz des Lehrerkollegiums. Sie nannten die Gebäude in Voyageur nach den Wahrzeichen der Gegend – nach Seen, Städten, Flüssen, Wäldern. Nicht nach Heiligen, Theologen oder Jesuitenmärtyrern. Laut Paulus waren die Jesuiten an derart vielen Orten derart grausam behandelt worden, weil sie bekehren und verändern wollten – geköpft in Japan, ausgeweidet am Horn von Afrika, lebendig gegessen in Nordamerika, gekreuzigt in Siam, gestreckt und gevierteilt in England, ins Meer geworfen vor Madagaskar –, daß die Gründer unserer kleinen Experimentalschule fanden, sie könnten der Gegend einige der besonders blutigen Embleme aus der Geschichte des Ordens ersparen.
    »Ach übrigens, Shay.«
    »Ja«, sagte ich.
    »Habe ich dich gestern in der kleinen Gruppe gesehen, die eine Petition zur Unterstützung von Senator McCarthy unterschrieben hat?«
    »Ich war da, jawohl, Pater.«
    »Und hast eine Petition unterschrieben.«
    »Es schien mir in Ordnung zu sein«, sagte ich.
    Er nickte, schaute an mir vorbei.
    »Weißt du, warum der Senat ihn verurteilt hat?«
    »Die anderen haben unterschrieben«, sagte ich. »Ein paar von den Südamerikanern«, sagte ich, etwas verzweifelt, ich wußte, wie albern das

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