Unterwelt
weiß.«
»Die Bänke sind darunter begraben.«
»Ja«, sagte er.
»Ich habe eben erst gemerkt, daß ich über eine Bank gelaufen bin, da draußen vorm Fenster.«
»Ja. Setz dich hin, Shay, und erzähl mir, wie es steht. Die Fortschritte eines jungen Mannes. So heißt diese Sitzung.«
»Ich hab mir ein Paar Stiefel ausgeliehen.«
Die Antwort gefiel ihm.
»Passen sie?«
»Nein.«
Noch besser. Als er mich nach dem Zustand meines Kopfes und meiner Seele fragte, was er nur selten tat, und als ich ihm eine praktische Antwort gab, wie ich es immer tat, glaubte er offensichtlich, daß ich mir aus irgendeinem männlichen Instinkt heraus eine handfeste Erwiderung hatte einfallen lassen, dabei war ich nur verwirrt, versuchte die ganze Zeit, eine passende Reihe von Wörtern zustandezubringen.
»Was liest du gerade?«
Ich sagte eine Liste auf.
»Begreifst du, was in diesen Büchern steht?«
»Nein«, sagte ich.
Wieder lächelte er. Ich glaube, er hatte begabte Kinder satt. Er hatte mit Jungen fortgeschrittenen Kalibers gearbeitet, und jetzt wollte er mit den anderen Außenseitern reden, von der Sorte, die sich und anderen nur Scherereien machte.
»Ein bißchen vielleicht. Was ich nicht begreife, lerne ich auswendig.«
Er hatte den Arm auf den Schreibtisch gestützt und seinen Kopf schräg auf die Hand gelegt. Kein Lächeln diesmal.
»Dafür haben wir das hier nicht aufgebaut, oder?«
»Ich lerne wie ein Wahnsinniger, Pater.«
»Aber du kannst Gedanken nicht auswendig lernen wie die Endungen lateinischer Verben.«
Seine Hände waren ohne Altersflecken und klein. Einige der anderen Jesuiten trugen Flanellhemden und schwere Pullover, doch Pater Paulus ließ sich nicht vom Klima, der geographischen Lage oder dem Gefühl besonderer Freiheiten dieses Ortes beeinflussen. Er ging im schwarzen Anzug mit Priesterkragen, und ich respektierte das und fand es beruhigend.
»Wir wollen hier unter anderem ernsthafte Männer heranziehen. Was für ein Wesen soll das sein? Gar nicht so leicht zu sagen. Letzten Endes jemand, der eine gewisse Tiefe entwickelt, sagen wir: eine Art Weite, die andere Denkweisen und Glaubensprinzipien respektiert. Wir wollen gemeinsam die Enge des fundamentalen menschlichen Röhrensystems überwinden. Und einem jungen Mann zu einer Entschiedenheit, einer ethischen Kraft verhelfen, die ihm genau zeigt, wer er ist, Shay, und wie er der Welt gegenübertreten soll.«
Du hattest immer Angst, den Pater zu enttäuschen, nicht sein Gesprächsniveau zu erreichen. Windelweich zu sein, wenn er sich spritzigere Verkehrsformen wünschte oder sogar etwas Großmäuliges, neunmalklug und lässig. Windelweich und beflissen, wenn er Unabhängigkeit und offene Diskussion wollte.
»Mein eigenes Leben, muß ich gestehen – ja, warum nicht, hör dir ruhig meine Beichte an, Shay. Wer wäre geeigneter als du? Viele Jahre habe ich gebraucht, um zu begreifen, daß ich kein ernsthafter Mann bin. Zu ironisch, zu eitel, zu wenig – was denn? Was weiß ich, alles mögliche. Und keine Wut, verstehst du. Höchstens eine so banale Wut wie bei einem eingewachsenen Zehennagel, einem belanglosen Ärgernis. Mit der Zeit lernt man das kennen. Handelst du aus Prinzip? Oder denkst du dir Rechtfertigungen für dein schlechtes Verhalten aus? Dies ist meine Beichte, nicht deine, also brauchst du auch keine Antworten zu geben. Noch nicht jedenfalls. Irgendwann schon. Im Herzen wirst du wissen, wie gut du deine Berufung zum Mann erfüllt hast.«
»Keine Wut«, sagte ich. »Was meinen Sie damit?«
»Keine Wut. Wut und Gewalt können Elemente produktiver Spannung in der Seele sein. Sie können dem Reichtum der eigenen Identität dienen. Ein Mann kann sich zum Beispiel von der Trivialität befreien, indem er einem anderen aufs Maul haut.«
Ich muß ihn angestarrt haben.
»Das steht doch außer Zweifel, oder? Ich mag Gewalt nicht. Sie macht mir eine Heidenangst. Aber ich glaube, ich sehe sie als erweiternde Kraft einer Persönlichkeit. Und ich glaube, die Fähigkeit eines Mannes, seinen gewalttätigen Neigungen entgegenzuhandeln, kann eine Quelle der Tugend darstellen, Ausdruck seines Charakters und seiner Geduld.«
»Was tut man denn nun? Haut man ihm aufs Maul, oder widersteht man dem Bedürfnis?«
»Gut gekontert. Ich weiß die Antwort nicht. Du weißt die Antwort«, sagte er. »Doch wie ernsthaft kann ein Mann sein, wenn er nicht die Gelüste und Leidenschaften seiner Spezies in vollem Maße erfährt, und sei es nur, um sie zu
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