Unterwelt
zügeln oder irgendwie nutzbringend zu steuern?«
Wer wäre geeigneter, meine Beichte anzuhören? Das hatte er doch gesagt, oder? Einer, der mal in der Besserungsanstalt war. Einer, der die Antwort weiß. Natürlich wußte ich nichts, das auch nur im entferntesten einer Antwort ähnelte, und fragte mich, wieso er glaubte, daß ich das Mal des besonderen Wissens trüge, weil ich getan hatte, was ich getan hatte.
»Ist dir das Wort Velleität schon mal begegnet? Hat doch einen hübschen thomistischen Beiklang. Willenskraft, aber bei tiefster Ebbe. Etwas Kleines, ein Wunsch, eine Neigung. Wenn du einen schwachen Willen hast, ja, dann lebst du letztlich nur in den flachsten Windungen und Wendungen deiner Vorurteile. Kommen wir voran?«
»Es ist Ihre Beichte, Pater.«
Sein Büro lag in einer alten Kaserne, und die Kraft des Windes ließ das Gebälk arbeiten und ächzen.
»Thomas von Aquin hat gesagt, nur gründliches Tun stärkt eine Gewohnheit. Nicht bloße Wiederholung. Für moralische Vervollkommnung sorgt allein die Gründlichkeit. Gründliche und beharrliche Willenskraft. Das ist ein Element der Ernsthaftigkeit. Beständigkeit. Auch das ist ein Element. Zweckdenken. Ein selbstgewähltes Ziel. Sag's ruhig, wenn ich ins Brabbeln komme. Damit verdienst du dir nur meinen Respekt.«
Wir befanden uns etwa dreißig Meilen südlich der kanadischen Grenze in einem weiträumigen Lager, das vor allem aus Baracken und anderen Holzbauten bestand, vielleicht ein Anklang an die missionarischen Wurzeln des Ordens – nur daß die Eingeborenen in diesem Fall wir waren. Arme, aber vielversprechende Stadtkinder; ein paar Hänflinge mit fotografischem Gedächtnis, die etwas Unreinliches an sich hatten; die aufgeweckten, aber labilen Zöglinge; diejenigen, die sich nicht anpassen konnten; diejenigen, deren Anpassung von Staats wegen verordnet war; ein Häuflein Südamerikaner aus einem Jesuitenzentrum in Venezuela, aufgeweckte junge Männer mit weltgewandtem Auftreten, die sich hier den Pimmel abfroren; und ein paar Bauernjungen von gar nicht so weit weg, schüchterner als geliehene Anzüge.
»Manchmal denke ich, die Erziehung, die wir euch zuteil werden lassen, würde besser zu einem Fünfzigjährigen passen, der das Gefühl hat, bei der ersten Runde daneben gelegen zu haben. Zu viel Abstraktion. Ewige Wahrheiten links und rechts. Es würde dir mehr bringen, deine Schuhe anzuschauen und ihre Bestandteile aufzuzählen. Vor allem du, Shay, wenn man bedenkt, wo du herkommst.«
Das schien ihn aufzumuntern. Er beugte sich über den Schreibtisch und glotzte, anders kann man es nicht sagen, auf meine nassen Stiefel.
»Häßliche Dinger, stimmt's?«
»Allerdings.«
»Zähl die Bestandteile auf. Na los. Wir sind hier nicht so affig, nicht so schick intellektuell, daß wir einen Schüler nicht unter vier Augen prüfen könnten.«
»Die Bestandteile aufzählen«, sagte ich. »Na schön. Schnürsenkel.«
»Schnürsenkel. Einer pro Schuh. Und weiter.« Ich hob einen Fuß an und drehte ihn unbeholfen. »Sohle und Absatz.«
»Ja. Und weiter.«
Ich setzte den Fuß wieder auf den Boden und starrte den Stiefel an, der mir ungefähr so leer vorkam wie eine verschlossene braune Schachtel.
»Und weiter, Junge.«
»Da gibt's doch nicht mehr viel aufzuzählen, oder? Eine Vorderseite und eine Oberseite.«
»Vorderseite und Oberseite. Da kommen einem ja die Tränen.«
»Das gerundete Stück an der Vorderseite.«
»Deine Wortgewandtheit zwingt mich gleich zu einer Pause, nur um mich wieder zu sammeln. Du hast die Schnürsenkel genannt. Wie heißt der Lappen unter den Schnürsenkeln?«
»Die Zunge.«
»Und?«
»Ich kannte das Wort. Ich habe das Ding bloß nicht gesehen.«
Er warf sich demonstrativ über den Schreibtisch und wand sich ein bißchen, als plagte ihn gerade größter Gram.
»Du hast das Ding nicht gesehen, weil du nicht weißt, wie man hinsieht. Und du weißt nicht, wie man hinsieht, weil du nicht weißt, wie die Dinge heißen.«
Er reckte das Kinn, äußerste, weitgehend theatralische Maßregelung, und zog den Körper von der Tischplatte zurück, ließ sein Hinterteil in den Drehstuhl plumpsen, sah mich wieder an und vollführte eine entschiedene Vierteldrehung, dann hob er das rechte Bein so weit, daß er den Fuß, den Schuh auf der Schreibtischkante postieren konnte.
Der einfache schwarze Alltagsschuh eines Priesters.
»Gut«, sagte er, »Sohle und Absatz sind uns bekannt.«
»Ja.«
»Und wir haben Zunge und
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