Unterwelt
wäre.
»Wir stehen vor einer Herausforderung, Dwayne. Es gilt, die geheimnisvolle Strömung zu verstehen, die durch die Nacht zieht und Millionen von Menschen quer über die Landmasse des Kontinents miteinander verbindet und dazu bringt, am nächsten Morgen als erstes ein ganz bestimmtes Produkt zu kaufen. Sie müssen es unbedingt haben, und wir müssen bereit für sie sein, wenn sie kommen.«
Er sagte: »Supermärkte und Schmerztabletten – das hält unser Land in Gang.«
Ein Dunkelhäutiger stand in der Tür.
»Sehatten Orangsaft bestellt?«
Charlie angelte etwas Geld aus der Tasche und bezahlte. Aus der Flasche in seinem Schreibtisch holte er eine extrastarke Tablette gegen sauren Magen und spülte sie mit dem wässrigen, fruchtfleischlosen, halbgegorenen Saft herunter, vielleicht konnte sie die Wogen des bevorstehenden Säureschwalls etwas glätten.
Er erzählte Dwayne einen dreckigen Witz und spürte, wie der Knabe da draußen in der Prärie puterrot wurde. Da ging nur noch ein flotter Abgang. Charlie durchschritt das mittelprotzige Foyer in babylonischem Art déco und flitzte eben schnell um die Ecke zu seiner schwedischen Masseurin, die zehn Minuten an seinen schmerzenden Lendenwirbeln herumkaratete. Dann sauste er bei Brooks Brothers rein und nahm ein paar Polohemden mit, denn was macht mehr Spaß als ein kleiner Spontankauf? Er quicksteppte über die Madison Avenue zur Men's Bar im Biltmore, wo er zügig einen Cutty on the rocks inhalierte, und in Nullkommagarnix war er wieder zur Tür raus und segelte durch die weite Haupthalle der Grand Central Station, den Bobby-Thomson-Baseball in die Innentasche seines Mantels gestopft – es war ein Allwetter-Burberry, den er wie einen Bruder liebte und der besonders gut zu seinem Anzug heute paßte, schiefergraues, schräggeripptes Kammgarn, maßgeschneidert von einem Burschen, bei dem sich auch das organisierte Verbrechen seine Revers machen ließ –, denn er hatte beschlossen, daß der Ball in seinem Büro nicht mehr sicher war und daß sein Sohn ihn haben sollte, für Liebe oder Geld, recht oder schlecht, echt oder falsch, aber bitte, Chuckie, mißbrauch mir mein Vertrauen nicht, ich könnte heute abend tot umfallen, während ich bei Tisch die gefüllten Pilze weiterreiche, und das hier ist das einzige, was ich dir geben will, auf daß du es nimmst und in Ehren hältst, und er ging mit großen Schritten durch die Kontrolle am Bahnsteig, erwischte gerade noch seinen Zug, das war der Höhepunkt der Evolution, des ganzen menschlichen Unterfangens, und er drängelte sich durch bis zum Speisewagen voller Männer, die alle mehr oder weniger wie Charlie aussahen, plus oder minus ein paar Jahre oder ein paar graue Haare oder ein paar Details aus ihren bösesten Träumen. Letzter Expreß nach Westport.
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3
11. JANUAR 1955
E s gab Geschichten über den Papst. Es gab Berichte, gewisse Untergrundgerüchte, die sich quer durchs ganze Land verbreiten können, von Gemeinde zu Gemeinde. Papst Pius hatte mystische Visionen. So lautete das Gerücht, das in Umlauf war. Er war Zeuge einer Reihe übernatürlicher Ereignisse geworden, hatte in tiefster Nacht Dinge gesehen. Diese Geschichte erzählten sich die Leute, was weiß ich, Nonnen, alte Damen an Novenenabenden, und vielleicht auch gutbetuchte Pfarrkinder, rosig und gesund, Kolumbusritter. Die Leute hören so eine Geschichte und spüren, wie sich in ihrer Seele etwas wendet, das ist ein Sprung aus dem guten alten Singsangleben hinein in eine ganz andere Lesart.
Im Unterricht erwähnte ein Schüler die Gerüchte Pater Paulus gegenüber, als unsere Diskussion das Thema Thaumatologie berührte, die Lehre von den Wundern.
Der alte Priester schaute aus dem Fenster.
»Wenn du bis drei Uhr morgens miesen Rotwein getrunken hättest, würdest du auch Visionen kriegen.«
Ich ging später am selben Tag zum Pater in sein Büro. Das waren sechshundert Meter zu Fuß durch einen fauchenden weißen Sturm. Ich hatte mir die Strickmütze über die Ohren gerollt und hielt den Unterarm gegen den schneidenden Hagel erhoben, gegen all die körperliche Härte, die Schneestürme und die offene Weite, gegen die Wirklichkeit einer Landmasse namens Nordamerika, die eine neue Erfahrung für mich war.
Der Pater fing an zu reden, noch bevor ich meine Jacke ausgezogen hatte.
»Wenn die Härchen in meiner Nase langsam steif werden. Dann will ich mich nach Südfrankreich zurückziehen.«
»Der Schnee auf dem Appellplatz.«
»Ja, ich
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