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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Sombrero. Jerry sagte, das wäre früher mal ein Jazzclub gewesen, der aber fast sofort pleite gemacht hätte, und seit sie die Musik gestrichen hätten und andere Leute kämen, würde er regelmäßig hier vorbeischauen. Er bräuchte eine Stunde zwischen Büro und Familie, um allein zu sein, sagte er, und nachzudenken.
    Er hatte recht. Ich wollte keine Fotos sehen.
    »Ich bin dreißig«, sagte er. »Als mein Vater fünfunddreißig war, sah er aus wie ein alter Mann.«
    »Aber nur für dich. Du warst in der ersten Klasse. Die sahen alle wie alte Männer aus.«
    »Nein, er war alt. Er war abgearbeitet. Es ist schön, dich zu sehen, Nick. Ich denk manchmal an dich. Ich fahr noch hin. Früher wimmelte es da nur so. Jetzt ist alles leer.«
    Wir waren zusammen auf der Schule gewesen, bei den Nonnen, und dann ging Jerry auf eine katholische High School, ich wechselte zu einer öffentlichen, und wir sahen uns nur noch selten, etwa in einem Kinofoyer beim Cola-Kaufen, er war mit seinen Freunden unterwegs und ich mit meinen, und es herrschte ein merkwürdiges Gefühl von Trennung zwischen uns, nicht unfreundlich, aber tief, und zum Teil lag es an dem Unterschied der Schulen, dem Auseinanderdriften von Gewohnheiten und Lebensweisen, aber da war noch etwas Unvereinbares, der Stil, die Freunde, die Zukunft.
    »Du warst irre lange weg. Irre lange. Schon mal dran gedacht, zurückzukommen?« sagte er.
    »Hier leben? Vergiß es. Nein. Gefällt mir gut da draußen.«
    »Da draußen. Was heißt da draußen?«
    »Alles, wovon du nie gehört hast.«
    »Wenn ich nie davon gehört habe, wie toll kann das schon sein?« sagte er.
    Wir nannten ihn immer Hibbel-Jerry, weil er herumzappelte und blinzelte, noch immer, wie mir auffiel, jetzt mit Brille und einem Schulring.
    Von den Jesuiten erzählte ich ihm nichts. Zu interessant. Er würde mich stundenlang hier festhalten. Ich erzählte ihm von dem Projekt, bei dem ich mitarbeitete, zur Veränderung traditioneller Lehrmethoden an der Schule, und daß ich Schulen in Ghettos und heruntergekommenen Stadtteilen besucht hatte, hier und in Philadelphia, als freier Mitarbeiter einer Firma für Verhaltensforschung in Evanston, Illinois.
    »Und du unterrichtest.«
    »Ich habe unterrichtet, das ja. Und wahrscheinlich werde ich es auch wieder machen«, sagte ich. »Früher oder später. Oberstufe. Sozialkunde und Englisch. Aber ich möchte gern Latein unterrichten.«
    Auch das war viel zu interessant. Er hätte sich königlich amüsieren müssen, aber dazu war es viel zu interessant. Eine Zeitlang hatte es so ausgesehen, als wäre Jerry auf Priesterkurs, das machte damals die Runde, oder sogar Richtung irisch-christliche Bruderschaft, und nun guckte er völlig verwirrt aus der Wäsche, wenn er an den Nicky dachte, den er von früher kannte, und was ihm später so zu Ohren gekommen war, und dann Lateinlehrer.
    »Besuchst du deine Mutter ab und zu?«
    »Gestern dagewesen«, sagte ich.
    »Immer noch Nummer 611?«
    »Immer noch.«
    »Ich fahr ganz gerne hin«, sagte er. »Esse was auf der Arthur Avenue. Laufe überall durch die Gegend. Gehe mit den Kleinen in den Zoo.«
    »Wenn man sich das anschaut heute. Auf dem absteigenden Ast.«
    »Und früher wimmelte es nur so. Oder sieht das bloß in meiner Erinnerung so aus? Die Sommerabende. Sagenhaft. Toll, dich zu sehen, Nick. Ich trink noch einen. Trink auch noch einen.«
    Ich wollte den ersten austrinken und dann weg, oder nicht mal austrinken und weg. So eine Zufallsbegegnung, wenn man die fünf Minuten zu lange dauern läßt, versaut man sich den ganzen Abend und den nächsten Tag gleich mit.
    Er rückte sich ständig die Brille zurecht.
    Ein Mann, der allein an einem Tisch saß, nölte einen Pennermonolog runter, wobei es auch darum ging, daß die ihm überallhin folgten und seine intimsten Gedanken auf Band aufnahmen und die sehenden Blinden zum Schnüffeln auf ihn angesetzt hatten mit ihren Hunden und Bleistiften und Sammelbüchsen, und zwar sowohl in den Bussen als auch in der U-Bahn.
    »Jerry, du solltest nach Hause gehen und mit deinen Kindern spielen. Wenn du fünfzig oder sechzig bist, kannst du hier sitzen und an die alten Zeiten denken.«
    Aber er wollte nicht nach Hause. Er wollte die Schicksalswege von hundert Seelen aufsagen, die miteinander verbunden waren, den Schwärm auf der Straße, der in seinem Kopf summte. Tot, verheiratet, nach Jersey rübergezogen, der Typ mit fünf Schwestern, aus dem ein Safeknacker geworden ist, das Handball-As, das

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