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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Tante Tovah immer dasaß und ihr Tüchlein zerknüllt hat. Steh gerade, hat sie gesagt. Red mit den Leuten, hat sie gesagt. Versuch's doch. Für mich, Liebling.«
    Während des ganzen langen Abends, zu lang, drei vollgepackte Stunden nonstop, zu lang, weil er zu lang sein muß, die haben gerade eine Krise überlebt und brauchen etwas Maßlosigkeit, und zu lang, weil Lenny einfach nicht aufhören kann, schaut er von der Vorderbühne hoch und sieht die verzierte Decke und die vergoldeten Logenreihen, und er weiß, dies ist der Tempel von Casals und Heifetz und Toscanini, und das versetzt ihm einen Starkstromschlag, und zu lang, weil er schon die ganze Woche unter Panikdampf fährt und sich wiedererweckt fühlt, lebendig, voller Lust, die Nacht durchzujaulen.
    Die Discjockeys waren da, Typen, die spätnachts mit rauchig-anrüchigen Stimmen Jazz auflegten. Berühmtheiten saßen im Parkett verteilt, das hier ganz europäisch »Parquet« hieß. Gemischtrassige Paare waren da und stellten eine geschliffene Nonchalance zur Schau. Leute, die von normalen Komikern gelangweilt waren. Leute, die herausgefordert und attackiert werden wollten, die gern hören wollten, wie ihre gutgemeinten Empfindungen als liberales Dinnergeschwätz bloßgestellt wurden.
    Lenny schraubte das Mikro vom Ständer und segnete sie alle.
    »Jetzt erzähl ich euch die unbekannte Geschichte der Woche. Der Präsident hat den Papst angerufen.« Erwartungsvolles Rascheln. Aber es ödet ihn an – heute abend hat er keine Lust auf Päpste. »Yeah, die ganze Woche Geheimkontakte. Von wegen Trennung von Kirche und Staat, alles Quark. Die Hostienfresser halten immer zusammen.« Päpste sind automatisch witzig – sie brauchen keinen Lenny, um ihren Firlefanz aufzuwerten. »Der Papst hat U-Boote, schon gewußt? Brauchst bloß n Wort zu sagen Johnny, dann schick ich sie. Die Mistkerle machen wir platt. Eure Heiligkeit, ich bin erstaunt, Mann. Sie haben Ihre eigene U-Bootflotte?«
    Lenny verlor das Interesse. Er schweifte ab zu Predigten und Ermahnungen, verlor sich in sturzflutartigen Grübeleien über Patriotismus, Kommunismus, die Einkommensteuer und Frauen, die sich Zigaretten in die Muschi stecken und perfekte Rauchringe blasen können. Und wenn er etwas Witziges sagte oder einen gelegentlichen Hauch von Erkenntnis produzierte und sie klatschten, dann sagte er, Nein, bitte nicht – laßt mich alleine fliegen.
    »Ich hab's immer gewußt. Seit meiner Kindheit hab ich's gewußt. Ich bin so korrupt wie die. Ich bin hier aufgewachsen. Die Polizei ist falsch, und ich bin es auch. Die Politiker lügen, und ich lüge noch mehr. Ich will mich vor laufender Kamera umbringen, damit die Leute am Rand ihrer Augäpfel das Gesicht eines toten Sünders mit in den Schlaf nehmen können.«
    Sie sahen die Bareule mit den Schlafzimmeraugen. Sie sahen und hörten den ausgelassenen Jungen mit der näselnden Stimme, den Jungen, der seine Mutter zum Lachen bringen will. Sie hörten den manischen Quassler, der hinter seinen eigenen, zusammenhanglosen Ideen herhechelt. Sie sahen den bezischten Faulenzer, eitel Trägheit und restlos verbrauchte Aufmerksamkeit. Sie hörten den Kreuzritter für Kraftausdrücke, den Sozialphilosophen, den selbststilisierten Advokaten, den selbstkritischen Juden, den christlichen Moralisten und den Rassenkommentator.
    »Ich bin gestern nacht von Miami eingeflogen und hab gleich ein Taxi ins Apollo Theater genommen, wo ich mich mit ein paar Freunden für die Spätshow verabredet hatte, weil ich diese Szene toll finde, und nach der Show kommen wir raus, und ich hab einen Koffer und einen Kleidersack dabei und es ist spät und es ist kalt und wir kriegen kein Taxi, weil nach Harlem keine Taxis fahren, also setzen wir uns zu Fuß in Bewegung, ja, und wir stolpern über einen alten Mann an der Ecke, der drei Leutchen was vorpalavert. Er ist ungefähr hundert Jahre alt und predigt für drei arme Seelen, und es ist wie Hyde Park Corner, bloß schwarz geschminkt.«
    Lenny lieferte eine halbwegs akzeptable Imitation der Stimme eines Straßenredners, was eine Überraschung war, ja, eigentlich sogar ein Fauxpas, denn auch wenn er als Imitator ins Showgeschäft eingestiegen war und Cagney und Bogart mit deutschem Akzent gespielt hatte, und auch wenn er für regelmäßige Aktualisierung sorgte, indem er zeitgenössische Typen jeder Couleur darstellte – so kam es doch wohl heutzutage für einen weißen Komiker nicht in Frage, die Stimme eines Schwarzen nachzumachen,

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