Unterwelt
anderen, und sie warfen sich das Buch über ihren Kopf und hinter ihrem Rücken zu. Das Buch war in dickes braunes Packpapier eingeschlagen, bestimmt von dem Mädchen selbst, Bronzini war sich sicher, daß sie das körnige Papier gefaltet und umgeschlagen und ihren Namen in blauer Tinte vorne drauf geschrieben hatte – Namen und Klasse und Fach. Salugi, schrien sie, dieses komische Wort, vielleicht eine Verballhornung des italienischen Saluto, vielleicht ein Spottgruß – hallo, wir haben deinen Hut, jetzt hol ihn dir mal wieder. Ein anderer Junge spielte mit, und das Mädchen rannte von einem zum anderen, flatterhändig dem fliegenden Buch hinterher.
Oder Hindi oder Persisch oder irgendeine northumbrische Augenblicksbildung, die quer durch die Jahrhunderte rieselte. Es gab so viel zu wissen, das er bis zu seinem Tod nicht wissen würde.
»Was ist mit dem Jungen?« sagte George. »Ich höre Sachen, da weiß ich nicht, ist das gut oder was.«
»Er macht sich. Einen Tag bin ich erfreut, am nächsten verärgert.«
»Ich habe Hochachtung vor Leuten, die dieses Spiel beherrschen. Wenn ich so bei mir denke, wie alt der Junge ist.«
»Genau das versuche ich nicht aus dem Auge zu verlieren, George.«
»Ich höre, er schlägt erfahrene Spieler. Das könnte gut oder schlecht sein. Nicht daß ich da Fachmann wäre. Aber ich denk mir so, vielleicht sollte er ja bei den anderen Jungs auf der Straße sein.«
»Die Straße ist noch nicht bereit für Matty.«
»Sie sollten ihm klarmachen, daß es noch was anderes gibt.«
»Er macht ja was anderes außer Schach. Er brüllt und schreit.«
George lächelte nicht. Er stand abseits, verloren in altem Schmollen, und er sog den letzten schwachen Rauch aus seiner Zigarette. Ein Zug zuviel. Dann warf er die Kippe weg und trat mit der geflickten Spitze seines ausgelatschten Schuhs darauf, der Grenze des uniformierten George, auf dem Spann rissig und zerfurcht.
»Wird Zeit, daß ich mal wieder drinnen mein Gesicht sehen lasse. Machen Sie's gut, Albert.«
»Bis später«, sagte Bronzini.
Er überquerte die Straße, damit er George dem Barbier zuwinken konnte. Wie Kinder sich anpassen, sie benutzen Backsteinmauern und Laternenpfähle und Hydranten. Er beobachtete, wie ein kleines Mädchen ein Ende ihres Springseils an ein Fenstergitter band und ihren kleinen Bruder dazu anstellte, das andere Ende zu drehen. Dann stellte sie sich in die Mitte und sprang. Keine Geschichte, keine Zukunft. Er beobachtete einen Jungen, der mit sich selber Handball spielte, er zielte den Ball genau in die Fuge zwischen Mauer und Boden. Und der hochelastische Gummiball, der rosa Ball von Spaldeen, prallte von der Backsteinfassade zurück. Die Fülle eines Augenblicks in der Spielstraße. Unmöglich, dir vorzustellen, daß du jemals über den Bleistiftstrich hinauswachsen wirst, mit dem die Mutter deine Größe an der Küchenwand markiert hat.
Der Barbier winkte zurück. Bronzini ging zur Ecke, an einem Mann vorbei, der Benzinkanister mit bulgarischem Schafskäse aus dem Kofferraum eines verbeulten Autos holte. Er wandte sich wieder nordwärts, das Aroma süßer Schale in der Hand. Er merkte, daß er immer noch die Mandarinenschale festhielt. Er mußte an China denken. Er war niemals da gewesen, weder dort noch groß anderswo, und fragte sich, warum der schwächste Hauch Mandarinenduft eine Welt voller Pagoden, Gongs und lautloser Höflinge vor seinem inneren Auge erstehen ließ.
Springer Springer wieviel Finger?
Der helle Schrei erreichte ihn, als er gerade die Schale zu ein paar Kartons warf, die an einem Kellereingang gestapelt lagen. Sie springen ihren Spielgefährten auf den Rücken. Meistens dient der dickste Junge als Kissen, an eine Wand oder einen Pfosten gelehnt, während die Jungen der einen Mannschaft einer hinter dem anderen gebückt dastehen und ihre Gegner nacheinander rennen und springen und johlend wieder zu Boden kommen. Die gebückten Jungen schwanken unter dem Gewicht, und der Anführer der springenden Mannschaft hält einige Finger hoch und schreit die Frage. Wieviel Finger? Bronzini versuchte sich zu erinnern, ob der gepolsterte Junge, der gerempelte und gestupste Klops, der eine, dem der Pudding am Kinn herunterläuft – heißt der nun offiziell Polster oder Pilaster? Blödsinn, entschied er, Jungen aus der Bronx wissen nichts von Pilastern. Also eher das mütterliche Kissen, daunengestopft.
Zwanzig nach vier. Die Verabredung war in zehn Minuten, und er wußte, selbst wenn er
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