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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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nach der ausgemachten Zeit einträfe, würde er nicht zu spät kommen, denn Pater Paulus kam bestimmt noch später. Bronzini beneidete die im Leben Ewigverspäteten um ihre muntere Ankunft. Woher nehmen die den Mut, zu spät zu kommen, uns regelmäßig ihre rüde Kühnheit vor die wartende Nase zu halten? Eine Gans und vier Kaninchen hingen kopfüber in einem Fenster, an den Hinterbeinen zusammengebunden, weniger anrührend tot als die Flunder auf dem Markt – stumpfes, schmuddliges Fell, das nichts kundzutun hatte. Neid und Bewunderung zugleich. Er faßte es so auf, daß diese Menschen es ablehnen, sich durch die kleinlichen Ansprüche von Zeit und Gewissen beherrschen zu lassen.
    Der Metzger erschien in der Tür seines Ladens, rotgesichtig und stopplig, laut, stinkig, glücklich in seiner ungewaschenen Schürze, ein Mann, der mit einem Drang lebte, irgend etwas in ihm drängelte nach außen, rannte gegen seine Brustwand an.
    »Albert, man sieht dich ja gar nicht mehr.«
    »Du siehst mich ja jetzt. Du siehst mich die ganze Zeit. Letzte Woche hab ich einen Braten gekauft.«
    »Red doch nicht von letzter Woche. Was soll mir letzte Woche?«
    Der Metzger rief vorbeikommenden Leuten etwas zu. Er rief quer über die Straße, um einen Mann zu beschimpfen oder eine bestimmte Frau mit bedeutsamen Anspielungen anzusprechen. Die kratzende, spuckende Sandstrahlstimme. Andere Frauen verzogen den Mund, amüsiert und abgestoßen.
    »Womit fütterst du dein kleines Genie?«
    »Ist nicht meins«, sagte Bronzini.
    »Sei dankbar. Wenn das mein Junge wäre, würde ich ihn aufs Land rausfahren und auf einem Hügel sitzenlassen. Aber ich würde warten, bis tiefster Winter ist.«
    »Wir lassen ihn einmal die Woche auf einem Buntstift kauen.«
    »Fütter den kleinen Spinner mit capozella. Davon kriegt er Mumm in die Knochen.«
    Der Metzger fuchtelte in Richtung des ganzen Lamms, das im Schaufenster hing. Bronzini stellte sich vor, wie der geschmorte Kopf heiß aus dem Ofen kam und vor Matty auf dem Teller lag. Zwei rauchende Köpfe, die einander anschauen. Und Albert sagt dem Jungen, daß er das Hirn und die Augen und die Hauptnerven essen muß. Sonst gibt's kein Schach mehr.
    »Davon kriegt er 'n bißchen Blei in seinen Bleistift.«
    Der Metzger stand an sein Schaufenster gelehnt und sah zwischen den baumelnden Tieren keineswegs fehl am Platz aus, breitbeinig, die Arme verschränkt. Bronzini erkannte darin Geschicklichkeit und Gleichgewicht. Die stämmige Anmut des Metzgers, guck mal, wie er ein Kotelett zuschneidet, siehst du, wie er zu dem Hackblock gehört, zu dem Schwelgen in schwabbelnden Muskeln und Matsch – seine geschickte und leichte Hand, sein Gefühl, daß er für diese Aufgabe geboren war, gaben den ausgeweideten Viechern eine gewisse Würde zurück.
    Bronzini fand, daß Herz und Lunge des Metzgers auch außerhalb seines Körpers hängen sollten, dargeboten wie bei einem Heiligen, um seine innige Verbindung mit dem Leiden der Welt zu demonstrieren.
    »Mach's gut, Albert.«
    »Ich schaue morgen rein.«
    »Grüß mir die Frau«, sagte der Metzger.
    Bronzini schaute erneut auf die Uhr, dann blieb er kurz an einem Kiosk stehen, um eine Zeitung zu kaufen. Er versuchte, sich zu verspäten, aber er wußte, er würde es nicht schaffen. Irgendeine Kraft trieb ihn dazu, nicht nur pünktlich, sondern etwa zweieinhalb Minuten zu früh in die Konditorei zu marschieren, was bedeutete, etwa zwanzig Minuten auf den Priester zu warten. Er setzte sich an einen Tisch in dem düsteren Raum und schlug auf dem verkratzten Email die Times auf.
    Ein Mädchen brachte Kaffee und ein Glas Wasser.
    Die Titelseite überraschte ihn, ein Paar dreispaltiger Schlagzeilen als Aufmacher. Zur Linken erringen die Giants die Meisterschaft, schlagen die Dodgers durch einen dramatischen Home Run im neunten Inning. Und zur Rechten, symmetrisch umbrochen, selbe Schriftart, selbe Schriftgröße, selbe Länge, zündet die UdSSR eine Atombombe – kawumm –, Details bleiben geheim.
    Er begriff nicht, wie die Times ein Baseballspiel von der Sportseite nehmen und neben eine Nachricht mit solch unheilvollen Folgen stellen konnte. Er fing an, den Bericht über den sowjetischen Atomtest zu lesen. Er konnte das Bild nicht aus seinem Kopf vertreiben, die Wolke, die keine Wolke war, den Pilz, der kein Pilz war – das Gefühl, unsicher nach einer Ausdrucksweise zu suchen, die jener sichtbaren Masse in der Luft gerecht werden konnte. Und plötzlich war der Priester da, kam

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