Unterwelt
Zyklop. Das Auge in der Mitte, die Ohren unter dem Kinn, der Mund fehlt völlig. Brian fehlt auch. Wir finden ihn draußen, er steht beim Taxi und schaut durch die Fabrikabgase auf die niedrigen Berge, die sich durch die Steppe ziehen. Aber wir fahren nicht mit dem Taxi in unser Hotel, um die Koffer abzuholen und uns zum Flughafen zu begeben. Viktor dirigiert den Fahrer zu einer Strahlungsklinik in der Vorstadt, und wir fahren ziemlich übellaunig dorthin, Brian und ich, auch wenn wir uns nicht wehren, allzu gründlich mundtot gemacht durch die Gurkengläser, um uns offen zu beklagen.
Er bringt uns im Grunde in den Bereich der Luftströmung. Nicht daß die Klinik in den Jahren der häufigen Detonationen im Luftströmungsbereich des Testgeländes lag. Die Klinik war damals wahrscheinlich noch gar nicht da. Nein, die Leute waren im Luftströmungsbereich, die Dorfbewohner, die heute Patienten sind, und ihre Kinder und Enkelkinder, und Viktor nimmt uns mit hinein, und diesmal sind wir nicht in einem Museum.
Viktor sagt, er ist viermal hier gewesen. Er sagt das in einem schwer zu entschlüsselnden Ton. Jedesmal, wenn er das Polygon besucht hat, ist er auch hierhergekommen. Da haben wir einen Mann, der versucht, Atomexplosionen zu verkaufen – mit sichereren Methoden, keine Frage –, und er kommt hierher, vielleicht um sich der Herausforderung zu stellen, um sich zu beweisen, daß er nicht blind für die Folgen ist. Die Opfer sind nämlich blind. Der Junge mit der Haut, wo seine Augen sein sollten, Kugeln aus schwammigem Fleisch, merkwürdig an den Hut eines Pilzes erinnernd, der unter jeder Augenbraue sprießt. Die kahlköpfigen Kinder, die in Unterwäsche an einer Wand aufgereiht stehen und darauf warten, untersucht zu werden. Der Mann mit dem Gewächs unter dem Kinn, einem Ding mit Eigenleben, embryonisch und pulsierend. Das Zwergenmädchen in einem T-Shirt, das für ein schwullesbisches Fest in Hamburg, Deutschland, wirbt, der Saum schleift auf dem Boden. Der fröhliche Kretin, der mit verschränkten Armen durch die Flure läuft. Die Frau, deren Gesichtszüge intakt sind, bloß daß sie irgendwie nur ein halbes Gesicht hat, alles in einem emporgeschwungenen Bogen untergebracht, der wie der zunehmende Mond über ihren Schultern schwebt.
Sie trägt dasselbe T-Shirt wie die Zwergin, und Viktor sagt, dies sei das Resultat einer schiefgegangenen schlauen Importidee. Ein hiesiger Geschäftsmann hat zehntausend T-Shirts gekauft, ohne zu wissen, daß sie von einer schwullesbischen Veranstaltung in Europa übriggeblieben waren. Sehr verrücktes Ding, sagt Viktor, diese T-Shirts in ein Land zu bringen, wo der Islam jeden Tag stärker wird.
Aber das gehört zu der Surrealität, nicht wahr, die im zweiundvierzigsten Stock dieses Moskauer Turms begonnen hat.
In der Klinik gibt es Fälle von Mißbildungen, Leukämie, Schilddrüsenkrebs, von Immunsystemen, die nicht funktionieren. Die Ärzte kennen Viktor und lassen uns überall herumschlendern. Er spricht mit Patienten und Pflegepersonal. Er sagt, es gibt unbekannte Krankheiten hier. Und Wörter, die ebenfalls unbekannt sind oder es früher waren. Das Wort Strahlung war viele Jahre lang verboten. Man durfte dieses Wort in keinem Krankenhaus in der Umgebung des Testgeländes aussprechen. Die Ärzte sagten dieses Wort nur zu Hause, zu ihren Frauen oder Männern oder Freunden, und vielleicht nicht einmal dort. Und die Dorfbewohner sagten dieses Wort nicht, weil sie nicht wußten, daß es existierte.
Einige der Zimmer haben Teppiche an den Wänden. Alte Männer tragen Käppchen und sitzen reglos in ärmlichen Fluren.
Wir stehen im Eingang zur Cafeteria und beobachten eine Gruppe junger Leute beim Mittagessen. Ihre Haare, Nägel und Zähne sind ausgefallen, und die jungen Leute sind hier, um erforscht zu werden. Ich schaue mich nach Brian um.
»Krankheit überall. Und ich sage Ihnen etwas«, sagt Viktor. »Sie beschuldigen uns. Sie sagen, das ist Berechnung. Die Kasachen glauben das.«
»Beschuldigen wen?«
»Die Russen. Sie sagen, wir wollten die ganze Bevölkerung umbringen. Rote Armee hat vor Test nicht immer Dörfer evakuiert. Leute sehen Blitz und dann große Wolke, die in Himmel steigt. Sie wissen nicht, was ist das. Rote Armee zündet Wasserstoffbombe, sehr große Strahlungskraft, ja, und sie lassen zurück hundert Leute aus Dorf, um zu sehen die Wirkung auf Menschen.«
»Das glauben Sie?«
»Ich glaube alles.«
»Glauben Sie, es war absichtlich?«
»Glaube alles.
Weitere Kostenlose Bücher