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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Alles ist wahr. Jedesmal bei Test Hunderte Städte und Dörfer waren Strahlung ausgesetzt. Gesundheitsminister sagt, Okay, wir erhöhen Grenzwert. Wenn Grenzwert überschritten, Okay, wir erhöhen wieder.«
    Viktor redet vor allem mit sich selbst, nehme ich an. Aber er redet auch mit mir. Diese Gesichter und Körper haben eine ungeheuerliche Macht. Ich spüre, wie etwas aus mir herausgesogen wird. Irgendein altes Widerstreben, eine Fähigkeit zu widerstehen. Ich schaue mich nach Brian um. Aber Brian will nicht irgendwelche zahnlosen Leute beim Mittagessen sehen. Er ist irgendwo draußen.
    Wir gehen durch die Flure, Viktor und ich.
    Er sagt, »Wenn sie einmal haben Bombe ausgedacht und Gleichungen aufgeschrieben, dann sehen sie, daß es ist möglich, sie zu bauen, sie bauen, sie testen in amerikanische Wüste, sie werfen auf Japaner, aber wenn sie einmal haben ausgedacht, am Anfang, dann wird alles wahr«, sagt er. »Nichts, was man glauben kann, wird nicht wahr.«
    Allmählich sehe ich ihn als einen sehr unwahrscheinlichen Mann, schlank und dunkel, das Grau in seinen Haaren überfärbt, offenbar hat er es nötig, halb gangsterhaft auszusehen in diesem langen, flotten Mantel. Auf den ersten Blick ordnet man ihn den heutigen wilden Zeiten der Privatisierung zu, dem Marathon der ausgetanzten Szenarien. Dem Schnell-reich-Szenario. Dem Nur-für-Mitglieder-und Schwache-raus-Szenario. Dem rohen Kapital und seinem Auswurf. Dem Erpressungs- und Mord-Szenario. Aber in Viktors Ansprache zur gegenwärtigen Lage schwingen auch Ironie und Zögern mit. Zu viele Jahre langsam wachsender Skepsis. Er sitzt in der Patsche, glaube ich.
    Er sagt, »Interessante Sache. In Ukraine gibt eine Frau, die sagt, sie ist zweite Christus. Eines Tages sie wird von ihren Jüngern gekreuzigt und dann von den Toten auferstehen. Sehr ernsthafte Person. Fünfzehntausend Jünger. Sie können glauben? Gebildete Menschen, sehen ganz normal aus. Ich weiß nicht. Nach Kommunismus so was?«
    »Vielleicht nach Tschernobyl.«
    »Ich weiß nicht«, sagt er.
    Er wußte es nicht, und ich genausowenig. Wir traten hinaus auf einen holprigen Hof, der am hinteren Ende auf die große, weite, bis zu den Bergen baumlose Ebene hinausging. Kinder spielten im Schmutz, sechs Jungen und Mädchen mit fehlendem Arm, in jedem Fall der linke, verknubbelt unter dem Ellbogen. Der augenlose Junge war auch da, saß in der Hocke, den Spielern zugewandt, als beobachtete er sorgfältig ihr Treiben. Kupferhäutig, in Kleidern, die vermutlich made in China waren, in jedem Schuh ein Loch über dem Rahmen, so daß seine großen Zehen herausragten, ein Vierzehnjähriger, laut Viktor, der wie neun oder zehn aussah, aber nicht zurückgeblieben, sein Kopf etwas zu groß, Gesicht und Stirn von Tumoren gezeichnet, und die schwammigen Hüte über den Stellen, wo seine Augen hätten sein sollen.
    Die Kinder spielen Folgt-dem-Anführer. Ein Junge fällt um, steht auf. Sie alle fallen um, stehen auf.
    Im Nebeneinander hatte das etwas an sich, das den Augenblick vertiefte, Gesichter vor der Landschaft, die immense Offenheit, die Weite des Schaflandes und des geteilten Himmels, der alles außerhalb von uns Liegende enthält, unerträglich. Ich betrachtete den Jungen, wie er zusammengekauert dahockte, er hatte die Arme über den Knien verschränkt. All die verbotenen Wörter, die Geheimnisse in ihren reingewaschenen Tresoren, die halbvergessenen Szenarien – jetzt sind sie allesamt hier draußen, sickern unsichtbar in Land und Luft, in die markgefüllten Rinnen jedes Knochens hinein.
    Er hockte unter dem großen, geteilten Himmel, seine Ohren lagen tief am abgeschrägten Kopf. Der Himmel war geteilt, diagonal gespalten, ein stumpfes Blau, ein weiches Schieferblau, wie der Kopf eines Haubenhähers, und ein Gelb, das nicht einmal richtig gelb war, ein immenses, herzzerreißendes Gelb, das gen Osten fegte, ein dunstiger, golddurchwirkter Fleck, und die Kinder mit den Knubbelarmen fielen der Reihe nach um.
    Die meisten unserer Sehnsüchte bleiben unerfüllt. Das ist der wehmütige tiefere Sinn des Wortes – ein Verlangen nach etwas, das fest ist, flüchtig oder anderweitig unerreichbar.
    Jetzt, während die Jahre vorbeirauschen, fahre ich in Phoenix manchmal hinaus, über die dichtbeschrifteten Zonen des Stadtplans hinaus, durch die nach Indianerstämmen benannten Straßen, an Dachdeckerbedarf und Sandstrahlwerkstatt und Kondomgeschäft vorbei, das jetzt in Eiskremfarben gestrichen ist, und schließlieh

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