Unterwelt
folge Viktor in einen Besprechungsraum, wo Terrinen und Servierplatten mit Bergen von dampfendem Essen auf einem Tisch arrangiert sind. Ich treffe einige leitende Angestellte von Tschaika und hohe Funktionäre aus mehreren GUS-Ministerien. Die Erwartung schlägt greifbar hohe Wellen. Dunkle junge Männer mit runden Kasachenmützen servieren Pfeffer-Wodka in Gläsern, die in Suppentassen mit zerstoßenem Eis stehen. Ich spreche mit einem Polygon-Veteranen, einem Waffenexperten, der Arbeit sucht. Ein Russe erzählt einem zusammengedrängten Haufen stämmiger Männer einen Witz, und ich stehe am Rand, verblüfft, in die dahinfließende Erzählung eingeflochten den Namen Speedy Gonzalez zu hören. Ich schaue mich nach Brian um. Brian soll das mitkriegen. Der Witzeerzähler trägt Uniform, sein Mittelfinger ist gen Himmel gereckt, sein Gesicht läuft rot an, während sich die Geschichte abspult. Er bringt die Pointe sehr gut, spricht die Worte mit erhobenem Finger, und mir fällt der Satz wieder ein, während er ihn auf russisch sagt – auf englisch natürlich, nach so vielen Jahren. Die zusammengedrängten Männer nicken und schaukeln vor und zurück, geben Sprenglaute von sich, aus mondrunden Gesichtern.
Kaviar perlt in geeisten Schalen. Da stehen Geologen neben Spieltheoretikern und Energieexperten und einem Journalisten mit Buchvertrag. Ich sehe Müllhändler und Risikokapitalisten, Piroggen und Lammspieße. Die Waffenhändler, sagt Viktor, wollen die ungenutzten Vorräte von waffenfähigem Plutonium ersteigern, das in den Randbereichen der Industrie in Umlauf ist.
»Und diese Bombenzündung«, sage ich. »Nicht durch internationale Abkommen verboten?«
»Verboten oder nicht verboten. Wir sind Ausnahme. Testgelände ist geschlossen durch Verordnung von hier. Aber wir sind Ausnahme. Muß Probevorführung gemacht werden. Von Plutoniummüll wird Menge immer wahnsinniger. Weltweit wer zählt mit? Vielleicht zwölfhundert metrische Tonnen?«
»Mehr.«
»Mehr. Na gut. Muß weg irgendwie.«
Das Essen macht mich eine Zeitlang glücklich. Ich esse alles, was in Reichweite ist. Fleisch, Fisch, Eier, mein Appetit ist enorm. Der Wodka sieht wunderbar aus, leuchtend, rubinrot, weich, was über seine Würze und Schärfe hinwegtäuscht. Ich fülle mich ab, bis fast nichts mehr reingeht, fühle mich wieder aufgebaut, von Grund auf gesund und zufrieden, proteingestählt, und ich beobachte, wie sich Viktor unter die Atom-Hautevolee mischt. Er wirkt ein wenig verloren unter diesen Zentralrechnern. Er muß sich einer Umgebung anpassen, in die Hehler und Schieber aus der Schattenwelt der Schwarzmarktspekulation gekrochen sind, um eine vollkommen neue Wirtschaft aus Reibach und Korruption aufzubauen. Ich bin nicht sicher, ob er all die Dinge vergessen kann, die er vergessen muß, um hier zu blühen und zu gedeihen.
Ich spreche mit einer Frau, der eine Blätterteigflocke im Mundwinkel klebt. Essen rettet uns vor der Unrettbarkeit der Landschaft, vor den Dosimetern, die wir am Körper tragen. Wir sprechen darüber. Wie nett wäre es, wenn die ungeschriebene Chronik eines beiläufigen Vergnügens die Ausnahme da draußen außer Kraft setzen könnte, die Kräfte, die es schon zur Glückssache werden lassen, einfach nur Luft zu holen.
Ich halte Ausschau nach Brian Glassic. Der Bunkerkomplex umfaßt mehrere Ebenen, und ein großer Teil ist offenkundig für Gäste gesperrt – abgeriegelt und bewacht. Ich schaue in Kartenräume, Schlafsäle, eine medizinische Einrichtung hinein und gehe weiter, über Betonübergänge, muß mich oft bei niedrigen Türstürzen bücken. Ein Wirtschaftsexperte von der UNO sucht eine Toilette. Ich schlängele mich durch eine Luke mit einem Eisengeländer und genagelten Stufen, und da ist er in einem kleinen Raum, schläft schon wieder.
Ein Stuhl, eine Pritsche, ein Waschbecken. Ich habe einen Teller Essen in der Hand. Nicht für ihn – Essen für mich. Ich setze mich, betrachte ihn im Schlaf und verputze mein Essen. Er trägt seinen Lodenmantel, so ein Tiroler Ding mit Kapuze, aus grobem Stoff, mit Holzknebeln als Knöpfen. Wie passend für sein altmodisches, schmales, jungenhaftes Gesicht, das ich wahrscheinlich mit fünf anständigen Schlägen zermalmen könnte. Ich stelle mir das mit einiger Befriedigung vor. Einen ernsthaften Hieb austeilen. Aber so was tun wir ja nicht mehr, oder? Das, das haben wir hinter uns gelassen. Fünf Hiebe in das rosige Gesicht mit dem bleicher werdenden Haar. Aber ich sitze
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