Unterwelt
respektvoll, während der Kleinbus sich dem Rettungshaus von Ismael Muñoz nähert.
Ein stopfvoller Haufen Schrottautos, aufgetürmt, zerbeult und ineinandergekeilt, siebzig oder achtzig Autos, geschändet. Die Nonnen schauen sich instinktiv nach einem Zeichen von Esmeralda um, die wahrscheinlich nachts in einem dieser Autos schläft. Dann parken sie den Kleinbus und betreten das heruntergekommene Mietshaus, klettern drei bröckelnde Treppen hoch bis zu Ismaels Hauptquartier.
Edgar erwartet, daß er fahl und erschöpft aussieht, sichtlich gebrechlich. Sie glaubt, daß er Aids hat. Das spürt sie. Sie spürt unheilschwangere Dinge. Sie bleibt auf Abstand, mustert ihn. Ein leutseliges, menschliches Wrack in Tropenhemd und mit Gammelbart – er ist heute aufgekratzt, denn er hat es geschafft, ein System in dem Gebäude zurechtzubasteln, das genug Strom für einen Fernseher produziert.
»Schaut mal, Schwestern«, sagt er.
Sie sehen einen kleinen Jungen Juano, der auf einem feststehenden Fahrrad sitzt und wie ein Wilder trampelt. Das Fahrrad ist an einen Generator aus dem Zweiten Weltkrieg angeschlossen, den Ismael billig bei einer Arsenalauflösung gekriegt hat. Der Generator puckert im Keller, Kabel laufen von der Maschine zum Fernseher hinauf, und ein quietschender Treibriemen verbindet den Fernseher mit dem Fahrrad. Wenn der Kleine schnell trampelt, spuckt der Generator einen Schwall Elektrizität Richtung Fernseher aus – ein tapferes, verdelltes Modell, das zwei der anderen Kids in den Müllgruben ausgebuddelt haben, wo es in der geologischen Schicht der Freizeitelektronik lagerte.
Gracie ist begeistert und setzt sich zu der Graffiti-Crew, acht oder neun Kids, die den Börsenkanal sehen.
Ismael sagt, »Was meint ihr? Hab ich das gutgemacht? Das ist nur ein Anfang. Ich hab große Sachen in der Planung.«
Edgar mißbilligt das natürlich. Das ist ihre Mission – zu mißbilligen. Einer der unerbittlichen Gnadenerweise an der Mauer, einem Ort ohne Verbindung mit den üblichen Dienstleistungen, war stets die Tatsache, daß es kein Fernsehen gab. Nun ist es plötzlich da. Man drückt einen Knopf, und all die Dinge, die einem seit Jahrhunderten verborgen waren, fliegen in die abgelegenste Hütte. Eine Epidemie des Sehens. Kein vorstellbarer Rückzugsort bleibt unerfaßt, der Uterus, der Meeresgrund, nicht einmal die verlorenen Hallen des menschlichen Gehirns. Und wenn man sie sehen kann, kann man die Krankheit auch kriegen. In einem flüchtigen Blick liegt ein krankheitserregendes Element.
Ismael sagt, »Ich gehe bald online, Schwestern, echt bald. Werbung für meine Schrottautos. Gleich, äh, global werden. Altmetall für die unterdrückten Länder, die ihr Militär aufbauen wollen.«
Auf der Mattscheibe stottert und hüpft ein Bild. Es ist der scheibenförmige Kopf eines Mannes, eines Typs in weißem Hemd mit blauem Kragen oder blauem Hemd mit weißem Kragen – die Farben springen ziemlich häufig um. Er spricht über die Aktienentwicklung des Tages, während Zahlen und Buchstaben in zwei Streifen unten am Bildrand entlanglaufen, einem blauen und einem weißen Streifen, und die Crew sitzt da und sieht in die Glotze, während der Kleine auf dem Fahrrad zusammengekrümmt trampelt, ein wild rackernder Junge, und die Namen und Preise laufen in zwei verschiedene Richtungen, und die aktiven Emissionen blinken.
Ismael sagt, »Manche Leute haben ihren eigenen Gott, okay. Ich will meinen eigenen Computer. Kein Unterschied, stimmt's?«
Ismael zieht die Nonnen gern auf. Edgar behält ihn im Auge. Sie bewundert die Graffitimauer, die Reihe um Reihe weitergemalten Engel, blau für Jungen, rosa für Mädchen, aber sie mißtraut dem Mann, der das Projekt leitet, und sie versucht die Enttäuschung zu begreifen, die sie empfindet, als sie Ismael in guter Laune und offenkundig guter Gesundheit antrifft.
Wünscht ihm Schwester Edgar, daß er todkrank ist? Findet sie, er müßte dafür bestraft werden, daß er homosexuell ist?
Alle sehen in die Glotze, bis auf sie. Sie sieht Ismael. Keine Blässe, kein Gewichtsverlust, keine Läsionen oder andere sichtbare Symptome. Nur ein vorstehendes Lächeln, das aus seiner Vorgeschichte schlampiger Zahnpflege stammt.
Warum möchte sie ihn gern leiden sehen? Ist er nicht eine der stabilisierenden Kräfte an der Mauer, wie er mit seinem Autoverwertungsgeschäft Geld macht und es mehr oder weniger altruistisch einsetzt, wie er seiner Crew aus Straßenkids etwas beibringt, von denen einige
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