Unterwelt
verstärkt durch das Büro selbst und den Bronzeturm, der das Büro umschließt, und durch all die Kontaktpunkte, die irgendwo in der Luft schimmern.
Wir nehmen das Wachspapier aus den Cornflakes-Packungen, bevor wir sie zum Abholen rausstellen. Die Straßen sind dunkel und leer. Wir trennen Weißglas von Buntglas, und erstaunlich, wie ruhig es ist, eine Stille, die sich alt und gesetzt anfühlt, mit dem Status eines Wahrzeichens, dem Gartenmüll, die flach gefalteten Papiertüten, die Stunde nach dem Sonnenuntergang, wenn die Welt innehält und man eine Sekunde lang vergißt, wo man ist.
Sie sitzen auf Holzbänken in den Minen und atmen Radon-Luft ein, tauchen die Füße in tödliches Radon-Wasser, und sie beten und psalmodieren und singen erhabene Choräle oder vielleicht ganz gewöhnliche Lieder, nette Mitsinglieder, die Art Lieder, die schon immer gesungen wurden, wenn man was in der Gruppe unternahm.
Wenn wir lange Fahrten machen – wir machen lange Fahrten, an den Altenheimbauten vorbei und auf dem langen, geraden Interstate-Highway, wo Wanderfalken in weiten Abständen auf den Stromleitungen sitzen, und manchmal reibe ich mir Arme und Gesicht mit Sonnenschutz ein, und es riecht nach Strand, da ist ein Hauch Hitze und Strand, ein Schleier aus schmierigem Zeug auf den Haaren meines Unterarms, und wie die Tube ploppt und saugt, wenn sie leer wird –, dann erinnert es mich an etwas von ganz früher.
Kein Mensch redet mehr vom Texas-Highway-Killer. Man kriegt den Namen nie zu hören. Der Name war lange in der Luft, immer kurz davor, ausgesprochen zu werden, wieder in den Sendepool zu kommen und für kurze Erregung auf den schnurgeraden Highways zu sorgen, aber offenbar gab es keine Schüsse mehr, und der Name ist inzwischen verschwunden. Manchmal aber denke ich an ihn und frage mich, ob er immer noch da draußen ist, fährt und sucht, keineswegs fertig mit seiner Sache, nur in Warteposition.
Wenn ich ihr etwas erzähle, hört sie mit einer gespannten, klaren Wachheit zu, so aufmerksam und still, und sie scheint zu wissen, was ich sagen will, bevor ich es sage. Ich erzähle ihr von der Zeit, die ich in der Besserungsanstalt verbracht habe, und warum ich dort hinkam, und auf irgendeiner Ebene scheint sie es schon zu wissen. Sie schaut mich an, als wäre ich siebzehn. Sie sieht mich mit siebzehn. Wir machen lange Spaziergänge am Abwasserkanal entlang. All die Andeutungen und Anspielungen, all die Dinge, die sie zu Beginn unserer gemeinsamen Zeit in mir erspähte – jetzt sind sie gewissermaßen vervollständigt. Wenn nicht für mich, dann für sie. Denn ich weiß doch nicht, was geschehen ist, oder?
Wir bündeln die Zeitungen, verschnüren sie aber nicht mit Bindfaden, was ja immer die große Versuchung ist.
Ergibt siebzehn Zeichen ein und dann Punkt com miraculum. Und die Wunder werden aufgerufen. Eines Abends beim Essen erzählt er uns von einem Wunder in der Bronx. Jeff ist scheu, wenn es um die Bronx geht, scheu und schuldbewußt. Er glaubt, sie gehört zum amerikanischen Gulag, ein Ort, seiner eigenen Erfahrung so fern, daß bestimmt keiner, der dort herkommt, mit ihm in einem Zimmer sein will. Aber wir sitzen an einem Tisch und essen miteinander, und er erzählt uns von einem Wunder, das sich vor ein paar Jahren ereignet hat und immer noch umstritten ist, jedenfalls im Net, im Web. Ein junges Mädchen fällt einem schrecklichen Verbrechen zum Opfer. Leiche wird auf leerem Grundstück zwischen Trümmerhaufen gefunden. Identifiziert und begraben. Das Mädchen bekommt ein Gedenkgraffiti auf einer nahegelegenen Häuserwand. Und dann das Wunder der Bilder und das darauf folgende Menschengetümmel und Glauben und Unglauben. Überwiegend Glauben, wie es scheint. Wir fragen nach, aber er geht mit dieser Art Material zögerlich um. Er ist scheu. Er hat das Gefühl, ihm würde es an Glaubwürdigkeit fehlen, um eine Geschichte von solcher Eindringlichkeit erzählen zu dürfen, all das Leid, der Glaube, die Offenheit der Gefühle, die in der Bronx zum Vorschein kommen. Gibt es einen besseren Ort, um Wunder zu erforschen, sage ich ihm.
Draußen auf der Straße sind es dreiundvierzig Grad, vierundvierzig, fünfundvierzig Grad, und ich fahre zum Flughafen und fliege nach Lissabon und Madrid, oder ich stehe im Wohnzimmer und schaue mir die Bücher an.
Jeff ist ein Spanner. Er besucht Websites, gibt sich aber nicht zu erkennen. Er sammelt Wellen und Strahlen. Er fügt Komponenten und Funktionen hinzu und sitzt vor
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