Unterwelt
für Wasser ist Wasser, aber er würde es nicht sagen können. Der Körper vergißt die grundlegenden Dinge. Er telefonierte mit Phoenix und betrachtete seine Windjacke, die über einem Stuhl hing.
Sie fuhren in New Jersey an den Strand. Jeden Tag gab es Liebe, jeden Tag gab es Salat. Das war zu der Zeit, als die Begriffe noch im Wörterbuch standen.
An dem Abend aß er eine halbe Honigmelone mit Weintrauben, die in den ausgehöhlten Teil gefüllt worden waren. So wurde die Melone im Supermarkt verkauft, in Frischhaltefolie verpackt.
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5
W enn einer eine Rattengeschichte erzählt, ist die Ratte immer gigantisch. Es ist eine schlabberwampige Riesenratze, mindestens so groß wie eine Katze, schon allein des Reimes wegen. Als Nick Shay heranwuchs, gab es ziemlich viele Rattengeschichten auf diesen Straßen. Nicht daß man oft Ratten zu sehen bekam. Man hörte sie in den Wänden und auf den Höfen, unterwegs auf den Dächern im Mondlicht, unzerstörbare Legenden. Enorme Ratten mit rattenbraunem Fell. Ratten in der Kanalisation und in Abrißhäusern und Kohlenkellern, ein Rascheln im hingeschmissenen Müll auf leeren Grundstücken.
Er stieg in der Nähe des Hauses, wo seine Mutter lebte, aus dem Taxi. Vor dreißig, vierzig Jahren hatte es dieses Gebäude noch nicht gegeben, ein großer brauner Bau, hoch und breit und mit der Ausstrahlung einer Befestigungsanlage – Zäune und Rampen, schräg von den Ziegelwänden hängende Kameras.
Dies war früher eine Reihe fünfstöckiger Häuser gewesen, Mietshäuser, und da hatte er auch die Ratte gesehen, naß und tot lag sie neben einem Kohlenhaufen auf dem Bürgersteig. Damals war er neun oder zehn, und die Sache fiel ihm, als das Taxi anfuhr, unmittelbar und detailliert wieder ein. Nur eine tote Ratte, aber er sah sie deutlich vor sich, von konturierter Durchsichtigkeit, wie ausgestanzt, wie doppelbelichtet, und dieses Gefühl schien ihm zu diesem Moment zu passen. Er dachte daran, wie er den schlaffen Körper untersucht hatte, mit schaurigem Kitzel, so nah dran zu sein, daß er sogar die schwache rosa Linie auf der Unterseite des Schwanzes erkennen konnte, und die Ratte war braun und grau und rosa und weiß, alles zugleich und voneinander abgesetzt, aber ihre Größe enttäuschte ihn – er würde übertreiben müssen, seine Geschichte mit etwas Masse und Länge aufpeppen, etwas Sabber und Gelbauge.
In einer Plexiglaskabine saß ein Mann. Nick trug sich in eine Liste ein und wurde per Türsummer in eine Vorhalle gelassen, die voll spielender und wirbelnder Kinder war, klein und immer kleiner, kreischende Stimmen in dem kahlen Raum. Er nahm den Fahrstuhl zum elften. Die andere Ratte kam später, als er über zwanzig war, auch sie durchschnittlich gebaut, gewöhnliches Norwegerbraun, aber durchschnittlich ist groß genug, wenn von Ratten die Rede ist.
Matt öffnete die Tür, sein Bruder Matty, immer noch etwas jungenhaft aussehend, kurz und klotzig, dickbebrillt und schmachtlockig, frisch vom Friseur und vielleicht obendrauf etwas grau, was fremd wirkte. Mitte vierzig wohl. Sie hatten sich ein paar Jahre nicht gesehen, und auch heute brachte sie nur ein Zufall in der Zeitplanung zusammen.
Sie gaben sich die Hand und tauschten das schiefe Lächeln zweier Widersacher aus, die nur durch widrige Umstände davon abgehalten werden, aufeinander loszugehen.
»Wo ist sie?« fragte Nick.
Sie sprachen von ihrer Mutter, von Medikamenten, Arztterminen, keineswegs ungewöhnliche Themen, aber in den Fragen des Älteren schwang eine Strenge mit, eine besondere Anteilnahme und Sorge, die sich am Ende zu einer Herausforderung auswuchs.
Schließlich sagte Matt: »Ihr geht's gut, sie ißt und schläft normal. Wenn du was Näheres über ihren Stuhlgang wissen willst, mußt du sie schon selber fragen.«
»Bleibst du über Nacht?«
»Zwei Nächte. Du hast vollkommen vergessen, wie es ist, Nick, eine Nacht in der Bronx.«
Aber der kleine Matty mit dem schmächtigen Oberkörper war längst breiter geworden, hatte obenherum Masse angesetzt, und etwas Kerniges lag in seinem Auftreten.
»Wenn ich morgen früh nicht nach New Jersey rausmüßte«, sagte Nick, »würde ich sie selbst zum Arzt bringen.«
»Was hast du denn in Jersey laufen? Chemiemüll verschlingt Einfamilienhäuser?«
»Eine Privatangelegenheit.«
»Wie geht's Marian?«
»Gut, allen geht's gut.«
Sie tranken Selters und schauten abwechselnd aus dem Fenster. Es war ein Panoramafenster mit weitem Blick nach Westen. El
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