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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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derselben Farbe, diesem Altherren-Beige, unverkennbar selbst aus fünfzig Metern Entfernung auf ihrem Bügel in einer jener riesenhaften, stillen Abteilungen kurz vor Geschäftsschluß, wo die Anzüge in Reih und Glied hängen wie Angestellte in der Hölle.
    Außerdem trug er ein Paar Latexhandschuhe, eine Vorsichtsmaßnahme, die er bei jedem Besuch in der Stadt ergriff.
    Als er die Lower East Side erreichte, fuhr er mehrere Male durch die Straße, bis er eine Parklücke gefunden hatte, die in Ordnung schien, wo das Auto weder abgeschleppt noch geknackt werden würde, und er schloß es ab, trat zurück und sah sich an, wie er eingeparkt hatte, sah sich die Straße ganz allgemein an, alte Möbel billig zu verkaufen und ein Lkw-Parkplatz, auf dem jeder Zentimeter jedes Trucks mit Graffiti bedeckt war. Die vorbeikommenden menschlichen Wesen sahen reizbar und ungeliebt aus. Zwei Männer in Rollstühlen flitzten den Autos hinterher, die an der roten Ampel hielten, um ein bißchen Kleingeld zu schnorren.
    Marvin fiel in seinen gleitenden Gang, seine Art des erläuternden Schlurfens, geradezu ein Kommentar zur Literatur des Schlurfens. Er ging die Orchard Street hinunter, schaute sich die Kleider in den Schaufenstern und an den Ständen an, Textilien am laufenden Meter. Er blieb stehen, um die Aufschriften einer Kollektion von wieheißtesgleich, T-Shirts zu lesen, eine unflätige Bemerkung auf so ziemlich jedem Exemplar, Worte, unmöglich zu drucken, seit es Oberbekleidung gab, und nun in einem Schaufenster. Ein junger Mann stand neben ihm, schmalgliedrig und tätowiert, mit halbfertigem Schnurrbart, und glotzte ihn an. Er spürte das, den stechenden Blick, der sich direkt in die Seite seines Kopfes bohrte.
    Marvin spähte hinüber.
    »Was? Ich gucke mir das Schaufenster an«, sagte er.
    »Wenn ich gucke, mußt du auch gucken?«
    »Darf ich nicht gucken? Was? Ist doch ein Schaufenster.«
    »Hast gesehen, wie ich gucke. Mußte auch gleich gucken?«
    »Was? Ich darf also nicht gucken?«
    »Ich gucke hier.«
    »Das ist ein öffentliches Schaufenster«, sagte Marvin. »Du willst ein Fenster? Ich fenster dir gleich eine.«
    »Was soll das jetzt, auf einmal?«
    »Du denkst, du willst gucken? Wirst dich gleich umgucken.«
    Marvin ging weg, was sollte er sonst tun, und krümmte die Finger in den Latexhandschuhen. Unmöglich zu leben. Du kannst ja nicht mal die Straße entlanggehen, einen Fuß vor den anderen setzen. Denn was passiert? Die bringen dich um. Die kommen irgendwo raus und stechen dich ab, weil du sie anguckst. Das ist das Allerneueste in punkto Tod und Bedrohung. Du guckst sie an, sie bringen dich um. Nur ein Blick, der sich mit ihrem Blick trifft, und sie haben das Recht, dein Leben zu beenden.
    Später überquerte er die Essex Street und entdeckte die Bäckerei. Wie er es mag, das Hinterzimmerhandwerk gleich vorn, die Öfen, der Tisch für den Brotteig, wo die Bialys vor deinen Augen gemacht werden, ein Mann in weißem Hemd und weißer Schürze mit durchgesiebtem Mehl auf Händen und Armen, und Marvin war von der Kraft des Augenblicks beeindruckt, ein schlichtes Schauspiel in einem Schaufenster, das Weiß von Brot und Arbeit. Er hätte den ganzen Tag hier stehen und dem Bäcker beim Formen der Teigmasse zusehen können, dachte er. Für später, für seine Tochter, kaufte er zwiebelbestreute Fladen, die waren etwas zum Essen und eine Stadt und eine Religion und ein Krieg.
    Er ging die Straße hinunter, die Bäckertüte warm an den Rippen. Er kam an einem Spielplatz vorbei, Kinder in der Hocke und in blitzschneller Aktion auf dem Handballfeld, und einen halben Block später war alles chinesisch.
    Als er noch einen Magen hatte, kam er oft mit Eleanor her.
    Wegen des alten Mysteriums chinesischer Dinge – Essen auf Dampftischen, Gemüse, das er nicht identifizieren konnte, das geheime Denken der Menschen. Er stand da und schaute den lebenden Fischen zu, die in selbstgebauten Bassins herumzappelten. Er kaufte einen gebratenen Kloß und biß davon ab, mehr als Geste denn wegen des Geschmacks, weil er nicht mehr wie früher schmecken konnte. Es war wie eine Erinnerung an das Essen, der Geist von Ingwer und gehacktem Schnittlauch.
    Er schlurfte zum Wagen zurück. Er sah die Rollstuhlbettler mit ihren Zottelbärten, sie machten ein Wettrennen zum nächsten Auto an der Ampel, warfen sich mit antreibenden, kurbelnden Händen nach vorn. Es war ein Kampf sich drehender Arme, ihre Augen lugten durch die staubigen Scheiben, um mit

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