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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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der schwereren Tüte geneigt. Sie sah, daß Nick gekommen war. Sie stand da und schaute ihn an, mit lebhaften, suchenden Augen. Sie suchte ihn immer nach irgend etwas ab, einem Zeichen, einer Veränderung. Er bewegte sich auf sie zu, um ihr mit den Tüten behilflich zu sein. Ihr Gesicht hatte fast überall Furchen, Krähenfüße und Runzeln, kleine Pergamentfalten über dem Mund. Ihre Hände waren alt, sie waren lang und abgearbeitet, milchigblaue Venen zogen sich über die schrundigen Knöchel.
    Sie nahmen ihr die Tüten ab, beklagten, daß sie ihnen nicht erlaubte, ihr genügend zu helfen. Sie warnten sie vor Überanstrengung des Rückens und Erschöpfung bei Hitze. Sie sagte ihnen, sie sollten den Mund halten, noch während sie versuchte, ihnen die Lebensmittel abzunehmen, die Sachen gingen von Hand zu Hand. Nick umarmte sie lachend, und in seinen Armen hatte sie das Gefühl, man könne sie nicht überreden.
    Sie aßen und redeten, nahmen sich noch einmal, Mais am Kolben, riesige Tomaten aus dem Garten des Gemüsehändlers auf City Island, die er für besondere Kunden im Hinterzimmer aufhob – der alte, volle Tomatengeschmack, sommerlich und blutbutterig und wollüstig.
    »Erzähl ihm von dem Job«, sagte Rosemary.
    »Das will er nicht hören.«
    »Er ist dein Bruder. Erzähl's ihm.«
    »Noch ein Berufswechsel?« fragte Nick.
    »Ja. Ein Forschungsinstitut.«
    »Dann ist das ja gar kein Wechsel.«
    »Es ist ein anderes Institut. Gemeinnützig. Wir erstellen Studien, um Ländern in der Dritten Welt bei der Entwicklung von Gesundheitsversorgung und Bankwesen zu helfen.«
    »Gutmenschenzeugs.«
    »Ja«, sagte Matt glücklich. »Wir produzieren Papier. Wir rauchen Pfeife, diejenigen von uns, die rauchen.«
    »Eine Denkfabrik«, sagte Rosemary.
    Sie ließen diesen Begriff über dem Salat schweben. Jahr für Jahr, Job für Job entfernte sich Matt von der Wissenschaft, mit der er sich in den siebziger Jahren befaßt hatte, Arbeit, deren genauer Charakter Nick unbekannt war, Regierungsarbeit, die Geheimprojekte und abgelegene Wohnorte mit sich brachte. Nicht daß sich Nick darum gerissen hätte, an ihn heranzukommen. Es war merkwürdig, sonst nichts, wenn zur Abwechslung mal der jüngere Bruder der Schmallippige war, nicht bereit, Fragen bereitwillig zu beantworten.
    »Mein Kleiner lernt das Spiel, Jeffrey.«
    »Welches Spiel?« fragte Matt.
    »Welches Spiel. Von welchem Spiel red ich wohl? Dein Spiel.«
    »Mein Spiel.«
    »Er spielt gegen seinen Computer. Sein Computer hat ein Schachprogramm mit einer Rücknahmeoption, so daß er seine dümmeren Züge rückgängig machen kann.«
    Matt sagte nichts.
    Die Katzen kamen aus ihrem Versteck. Sie schmiegten sich um die Stuhlbeine, krümmten den Rücken, rieben sich an den Beinen der Menschen, wanden sich durch den Irrgarten da unten, und sie gingen mit schaukelndem Rücken und gähnten, Ärschchen in die Höh.
    »Wir haben Platz für dich«, sagte Nick zu seiner Mutter. »Wie ist das denn aufgekommen?«
    »Es war immer da. Das weißt du doch. Wir warten darauf, daß du sagst, du bist soweit.«
    »Nun, ich bin es nicht. Es gibt Nachtisch. Wer will Kaffee?« sagte sie. »Ich nehme den koffeinfreien. Ich weiß, Matty trinkt welchen.«
    Dann erzählte sie ihnen eine Geschichte von Jimmy in der Stadt. Sie erzählte sie beim Kaffee, und sie hörten ihr mit einer gemeinsamen Intensität zu, die kein anderes Thema auch nur annähernd hervorrufen konnte. Das war es, was sie immer noch zu einer Familie machte, trotz all dem Schweigen und der Distanz – der Vater in seiner verlorenen Glorie, der Buchmacher.
    »Es war komisch, ich meine komisch-merkwürdig, aber die ersten Wetten, die er je annahm, waren von Cops. Er arbeitete als Klempnergehilfe im Hotel New Yorker. Dann wurde er ins Büro der Wachmannschaft versetzt, da habe ich ihn ein paarmal besucht und ihm Gesellschaft geleistet, ein großes, lautes Büro in der Nähe der Warenannahme, und der Chef des Wachpersonals hatte einen Raum für den Buchmacher des Viertels abgeteilt, damit der jeden Morgen kommen und seinen Geschäften nachgehen konnte. Er berechnete ihm Miete, bestimmt keine übertriebenen Summen. Und bald darauf ernannte der Buchmacher Jimmy zu seinem Läufer. Jimmy fand das klasse. Er zahlte den Gewinnern Geld aus und kassierte von den Verlierern . J eden Tag machte er seine Runde, kreuz und quer durch den Garment District. Er war leichtfüßig, wich den Jungs aus, die die Kleiderständer herumschoben. Mit der Zeit zog

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