Untitled
ich seit Längerem nicht mehr an J denke. Und das, weil ich es nicht vermag. Meine Augenbrauen zieht es zusammen, so sehr muss ich mich anstrengen, dass mir ihr Name einfällt: Julia. Ich zerre die tonnenschweren Buchstaben aus dem violetten Gelee, das in meinem Gehirn umherschwappt. Ich muss mich weit nach hinten biegen, um nicht schon wieder das Gleichgewicht zu verlieren und kopfüber hineinzustürzen. Alles klebt, ich kann mich trotzdem kaum halten, und das, obwohl ich schon liege. Die Tanzfläche, oder was das hier sein soll, ist ziemlich steil. Wenn ich die Augen geschlossen halte, geht es so einigermaßen. In mir ist eine Panik entstanden, die ekligerweise nicht hochkommt, ich kann nicht schreien, sie schnürt mir die Luft ab, ich fühle mich allein und ich fürchte mich sehr in der Dunkelheit. Mein Herz schlägt viel zu langsam, aber dafür derart laut, dass ich nicht verstehen kann, was die Jungs dort drüben von mir wollen.
In dem Taxi ist es so kalt, ich habe bestimmt blaue Lippen. Ich kann sie nicht bewegen, ich kann mich auch nicht zu Erin hindrehen. Ich bin zusammengesunken, und wenn ich mich nur ein bisschen mehr aufrichte, bricht mir die Wirbelsäule mitten durch, das fürchte ich nicht nur, ich weiß es jetzt gerade ganz genau.
Ich habe eine Karte für den Deutschen Block, in der zweiten Reihe links, nah am Beginn des Laufsteges bei Ralph Lauren, der seine Kollektion wie immer in den Skylight Studios an der Hudson Street zeigt. Nicht weit vom Hotel, trotzdem bin ich über eine Stunde zu früh, was mir egal ist, ich bin mein Leben lang pünktlich, oft auch zu früh. Dann gehe ich durch die Nebenstraßen und höre Musik. Als ich gegen halb sechs erwachte, ging es mir den Umständen sozusagen entsprechend gut, bis mich nach einigen Augenblicken ein Gefühl des schlechten Gewissens überkam, dergestalt, dass ich mit den davon noch unbesetzt gebliebenen Kapazitäten nur denken konnte: Jetzt ist alles zu spät. Ich habe das immer, dass ich mich nach einem Abend mit Drogen vor mir selbst ekele. Auch vor den anderen natürlich, so übertrage ich einen Teil der Vorwürfe von mir auf die Zeugen; ich selbst halte mir vor, dass ich Zeit verschwendet habe, eine unwürdige Figur abgegeben habe (was in dem Fall meines Herumkriechens auf der Tanzfläche des Marcys auch zutreffend ist) und, das wiegt am Morgen danach für mich schwer: beeinträchtigt bin in meiner Beobachtungsgabe und Aufnahmefähigkeit.
Dass Erin so gut wie nackt an der Fensterfront stand und den Rauch ihrer Zigarette aus der Lüftungsklappe pustete, finde ich egal. Ich sah ihr Tattoo, der fette Schriftzug einer Handschrift, quer über ihre spitzen Schulterblätter – angeblich hat Barbara Kruger ihr nach einem Nachmittag von n’importe quoi mit einem Fettstift ihren berühmtestenSlogan I Shop Therefore I Am dorthin gemalt, woraufhin E sich diesen Schriftzug am selben Tag noch unter die Haut stechen ließ. Ich schäme mich vor Julia für mein Benehmen gestern, obwohl sie nicht anwesend war, aber ich fühle etwas, so als sei es zwischen uns im Verlauf der letzten Nacht zu einer Verstimmung gekommen, so als habe ich sie beleidigt oder beschimpft, dabei bin ich mir sicher, dass ich, zumindest bewusst, nichts dergleichen gesagt oder getan oder gedacht habe. Mir fällt aber der schreckliche Moment ein, als mir aufging, dass die Verbindung zu ihr gestört würde durch den Codeinrausch, und wie sich in mir diese Panik ausbreitete, ohne dass ich etwas zu ändern vermochte. Und wie ich dieser Erinnerung nachgebe, darf ich mir auf einmal nicht mehr gewiss sein, ob sich die Verbindung wieder regenerieren ließe. Und das macht mir unbegreiflicherweise Angst.
Ich sehe das kaputte iPhone auf dem Buch von Hillenkamp liegen, und als ich es einschalte, schaue ich durch die silbrigen Risse auf den blauen Umschlag des Mailprogramms, wo in dem roten Kreis eine zweistellige Zahl angezeigt wird. Jede Menge Geschäftliches und zwei von Senta, keine Nachricht von J. In dieser mich stumm und schwindlig machenden Form habe ich das schlechte Gewissen bis jetzt noch nicht kennengelernt. Ich hatte auch keine Ahnung, zu welchem Potenzial sich dieses beschissene Gefühl noch würde steigern können. Und zwar schon bald. An diesem Morgen stellt es sich mir lediglich vor. Und schon in seiner verdünnten Form macht es mich schwach; dagegen ist der Codeinkater nur ein Kratzer.
Wir zogen uns schweigend an, die erschreckend laut erscheinende Frage Erins aus dem Badezimmer, wozu
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