Untitled
ich denn all diese Zahnpastatuben brauchte, vergaß ich absichtlich zu beantworten.
Kurz darauf stehen wir uns im Aufzug gegenüber und keiner von uns sagt ein Wort. Im Grill mit dem Ausblick auf die Schlachthöfe der Washingtonstreet bestellen wir Haferflocken und die mexikanische Papaya, außer uns sitzt da noch Karla Otto, die gleich um die Ecke wohnt und ebenfalls an einer Papaya herummacht. Der Jasmintee tut gut. Irgendwann müssen wir lachen und dann schauen wir uns noch durch unsere ultradunklen Sonnenbrillen ziemlich lange an und gehen unserer Wege.
Im Eingangsbereich der Skylight Studios ist das größte Blumenbouquet aufgebaut, das ich jemals gesehen habe. Ich bin mir sicher, dass die bronzefarbene Vase eigens hierfür gegossen wurde. Wir werden die Herbstmode sehen, wie jedes Jahr auf den Schauen im Frühjahr, und die Farbnuancen der Blüten sollen uns, das Fachpublikum, die Einkäufer und Journalisten und seine ultrareichen Kunden, auf Ralphs Vision einstimmen. Es gab eine Saison, ich glaube, das war im vorletzten Jahr, da standen dort Mohnblumen, angefangen mit Zitrustönen über Blassorange und Tiefrot bis beinahe Schwarz. Ich erinnere mich auch an einen Strauß abartig geformter Dschungelpflanzen einer anderen Saison, die in sämtlichen Schlammtönen blühten. In diesem Frühjahr wird der Herbst von Ralph Lauren komplett in Violett vorhergesehen.
Beim Anblick des Bouquets aus lackierten Callas und samtigen Orchideen und zitternden Rispen und Halmen in sämtlichen Schattierungen von Mauve und Flieder über Purpur, Lila und Violett meine ich, wieder das Aroma der Hustensaftmischung auf meiner Zunge zu schmecken. Mein angebliches Zuckermanko, wobei ich nicht glaube, dass es so etwas überhaupt gibt, habe ich heute Nacht aufgefüllt, das reicht locker bis in den Herbst.
Dirk sieht auch nicht gut aus. Annette Weber hingegen:perfekt; ist zudem für Ralph Lauren in einen Total Look by Ralph Lauren geschlüpft, samt nerzgefütterter Vintage-Jeansjacke und gut durchgekauten Boots. Am Handgelenk schlackert ihr eine rotgoldene Rolex Oyster. Ich winke ihr fröhlich mit der hellen Pappkarte, dabei verlöscht das Licht.
Ich habe noch nie etwas notiert während einer Modenschau. Viele Kollegen tun das, Dirk zum Beispiel, er schreibt Uhrzeiten in seinen Block. Vis-à-vis, in der ersten Reihe sitzt Suzy Menkes, die von vielen als einflussreich beschrieben wird, und das mag ja auch sein, dass ihre Berichte in der Herald Tribune viel gelesen werden, aber lesbar oder schön geschrieben sind sie nicht. Jedenfalls tippt sie ohne Unterlass in ihren Laptop, gerade so, als würden ihre Notizen simultan veröffentlicht, vielleicht ist das sogar der Fall. Ich interessiere mich bereits nur noch sporadisch oder wenn es sein muss für meine sogenannte Branche. Und in den nächsten Wochen würde dieses Interesse noch weiter zurückgehen, wie Zahnfleisch in der Animation aus der Zahnpastawerbung, das unter dem Angriff der Parodontose sich götterspeisenartig in Richtung Bildrand verzieht. Meine Gabe, die einzige wahrscheinlich, nämlich durch Intuition mein horrend mangelndes Wissen zu überbrücken, Ideen im Gespräch zu entwickeln, wird mich dann durch den Redaktionsalltag retten. Meine eigentliche Beschäftigung wird ja längst eine andere sein: Julia Speer.
Als noch einmal alle Models in Braun und Lila gewandet über den weiß glänzenden Steg schnüren und schließlich Ralph Lauren selbst im schwarzen Rollkragenpullover, aber ansonsten im Partnerlook mit Annette Weber, zu Lay Lady Lay den Applaus entgegennimmt, erscheint über dem blauen Briefumschlag des iSlates ein roter Kreis mit einer Eins darin. Eine Nachricht von ihr, diese Adresse kennt sonst niemand, nur J.
Ich weiß gerade nicht, welcher Wochentag ist, aber sie schreibt, dass sie beschäftigt war, dass sie sich sehr über meine späte Nachricht gefreut hat (in der ich ihr eine Liebeserklärung gemacht habe). Sie fragt, ob es dabei bleibt, dass ich übermorgen zurückkomme. Also muss dort Samstag sein.
Ja!, schreibe ich zurück, und dass ich sie vermisse. Innert Sekunden kommt ihre Antwort: Ich vermisse dich auch. Es gibt zwei Songs von Sonic Youth, die mich seit vielen Jahren begleiten: Hotwire my Heart ist das eine, das zweite hat den Titel Expressway to Your Skull. Was Julia Speer, über sechstausend Kilometer entfernt, mit einem deutschen Satz anrichten kann, übertrifft eine Mischung aus beidem, sie beschickt den Expressway to the Hotwired Heart in My
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