Untitled
Skull. Ich kriege nicht mit, was ich zu Dirk sage, weil der sich für das iSlate interessiert, aber er findet es offensichtlich lustig oder charmant, jedenfalls lachen wir beide, und als ich mich mit den Leuten aus der Halle treiben lasse, fällt mir ein, dass ich mich noch nie zuvor gefragt habe, wie jemand wohl auf die Idee gekommen sein mag, festzustellen, er ginge wie auf Wolken.
Später ist es draußen dann bereits dunkel, Schnee wirbelt von den in der Dunkelheit liegenden Spitzen der Häuser herab. Es sind noch zwei Stunden bis zur Abschlussveranstaltung (Tommy Hilfiger) im weißen Zelt des Bryant Park. Ich ziehe es vor, zu Fuß zu gehen, und auf Höhe der 47. Street vibriert das iPhone, es ist eine Nachricht von Julia, sie schreibt:
Es sind Fotos aufgetaucht von dem Abend. Aus dem Badezimmer. Ich habe Sascha gebeten, mir die Dateien zu schicken. Ich muss sie unbedingt vernichten!
Zeig sie mir mal!, schreibe ich zurück.
Aber der Anhang der ersten Mail lässt sich nicht öffnen.Der Schneefall hat sich inzwischen derart verdichtet, dass mein Anzug völlig durchnässt wurde, mein luftig gewebter Burberry-Schal klebt mir am Hals wie Kleenex. Ich betrete das erstbeste Diner, um mich am Tresen aufzuwärmen. In dem Moment, da ich mich aus dem klammen Zeugs geschält und mir Bier, schwarzen Kaffee und Fritten bestellt habe, treffen die Bilder aus Deutschland ein. Zwei Aufnahmen:
EINS zeigt Julia am linken Bildrand und mich an dem anderen, beide im Vollprofil. Sie trägt ein schwarzes Jackett von Akris und darunter eine weiße Bluse im Hemdenschnitt. Kein Make-up, ihre Haut erfüllt die Bedingung von Naturschönheit. Wimperntusche aus dem Drogeriemarkt. Meine Frisur sieht echt beschissen aus. Unsere Lippen sind weit geöffnet, unsere Münder ineinander verschränkt. Julias Auge steht halb offen, sie fixiert den Fokus der Kamera, eingefangen ist der Moment, da sie der Umstehenden gewahr wird, die Kamera gezückt wurde, es war die Kamera eines iPhones, denn mit der Datei wird mir eine Locator-Funktion angeboten – und die Adressinformation ist zutreffend. Dort befindet sich die Wohnung jenes Autors. Die Fotos sind weder montiert noch nachgestellt. Wobei man natürlich zwei Darsteller in das Badezimmer dieser Wohnung einbringen könnte, um dann hernach die betreffenden Gesichtspartien – womit bei der Herstellung von ZWEI erhebliche Schwierigkeiten verbunden wären, denn ich weiß zwar nicht, wie viele Fotos es gibt, auf denen Julia Speer mit geschlossenen Augen und geöffneten Lippen und Zahnpastaschaum über dem gesamten Gesicht verteilt abgelichtet wurde. Fest steht: Einen Schnappschuss, auf dem ich, Zahnpastaschaum in einem hellen Kringel um die Mundpartie verschmiert, derart entrückt erscheine, gibt es meines Wissens nach nicht.
Ich muss diese Bilder wieder und wieder hervorziehen und betrachten. Es sind Heiligtümer. Beweise, dass es Julia gibt für mich. Dass alles, was zunehmend Besitz ergreift von meinem Gedanken, dem Fühlen sowieso, vor allem aber: meinem Leben, dass dies in Wirklichkeit stattgefunden hat und weitergeht. Ich bin mir nicht sicher, welches der beiden Bilder mich mehr anspricht. Wenn ich Julias Gesicht zu sehen bekomme und ihre wunderschönen Lippen, ihre Augen, den Hals und das zarte Ohr, werde ich ergriffen von einem Taumel. Ich will zu ihr. Ich habe vergessen, wie sie duftet (sehr gut!) Auf jeden Fall: sehr gut.
Dass sie soeben noch davon gesprochen hat, die Heiligtümer vernichten zu müssen, und zwar unbedingt, dringt durch den Taumel nicht zu mir durch. Außerdem besitze ich ja nun selbst zwei Exemplare. Vernichten werde ich diese auf gar keinen Fall.
Das Hochgefühl, das durch den Erhalt der Fotos entstanden ist; durch das Betrachten der Bilder, auf denen Julia und ich zu sehen sind, wie ich küssenderweise die Zahnpasta aus ihrem Gesicht entferne, dieses jedem mir bekannten Drogenrausch überlegene High blendet den Schneefall aus, der die gesamte Vorderseite meiner Person inklusive des Gesichts mit einer nasskalten Schicht beflockt.
Die spielhöllenartige Empfangssituation im weißen Zelt im Bryant Park dringt ebenso vage zu mir durch wie die Begrüßungen diverser Kollegen, die ich reflexhaft erwidere. Gewiss: Da hängt ein lilafarben lackierter christbaumkugelartigaufhochglanzpoliertspiegelnder Sportwagen des Sponsors DaimlerChrysler von der Decke, seine Flügeltüren stehen weit offen, ein Engel von sportwagener Gestalt, und darunter gleiten die Bilder der
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