Untitled
Kreuz, führte es rasch an die Lippen und murmelte drei „Ave Maria". Dann versenkte sie den Rosenkranz in der Tiefe ihrer Kleidertasche. Anschließend nahm sie den großen Schirm ihres verstorbenen Mannes in die Hand und nickte zufrieden. Der schwere Messingknauf strahlte ein beruhigendes Gefühl aus. Er gab ihr eine gewisse Sicherheit. Nicht, daß sie an der Wirkung ihres Rosenkranzes zweifelte, aber man konnte ja nie wissen ...! Derart bewaffnet verließ sie kurz darauf ihr Haus.
Hochwürden im Nachbarhaus, inzwischen vollends aus seinem Schlaf gerissen, stand am Fenster und konnte seine Nachbarin gerade noch um die Hausecke in Richtung Hügel verschwinden sehen.
Ihm schwante nichts Gutes! So schnell wie in diesem Moment war er all die letzten Jahre nicht mehr in seine priesterliche Soutane gestiegen. Zumal er es liebte, sich beim Ankleiden Zeit zu lassen. Trotz dieser ungewohnten Hast griff er schnell noch den kleinen silbernen Flachmann, dessen hochprozentigen Inhalt er mit einem Schluck leerte, um flugs Weihwasser hineinzufüllen. Nachdem er die Flasche in seiner Soutane verstaut hatte, schlich er vorsichtig aus dem Haus. Er wollte auf keinen Fall von seiner Haushälterin gesehen werden.
Da es nicht seine Absicht war, Madame Vanille durch sein unverhofftes Erscheinen von ihrem nächtlichen Vorhaben abzubringen, bewegte er sich diskret im langen Schatten der Häuser. Als Madame jedoch begann, den Hügel zu erklimmen und er ihr nur unter der Gefahr, entdeckt zu werden, folgen konnte, hielt er sich so lange am Fuß des kleinen Berges versteckt, bis die alte Dame den Friedhof durch die Pforte betreten hatte. Dann erst folgte er ihr unauffällig und lugte vorsichtig über den Zaun. Der Mond war für Sekunden von einer Wolke verdeckt. Nur mit Mühe konnte der Priester seine Nachbarin ausmachen, die ängstlich spähend von Grabstein zu Grabstein schlich. Ihr Herz schlug bis zum Halse.
Sie erschrak entsetzlich, als sie durch einen unbedachten Schritt einen Kieselstein anstieß und dieser dann klickernd vor ihr hertanzte. Fast drohte der Mut sie zu verlassen. Aber sie war keine Frau, die einmal Begonnenes so ohne weiteres wieder aufgab.
Der Mond beschien jetzt hell den Kirchhof. Das Grabmal derer von Grauenstein lag gespenstisch schön im vollen Licht. Schon wollte Madame zum letzten Spurt ansetzen, um zum Grab ihres Gottseligen zu gelangen, als sie wieder – wie schon am Morgen zuvor – dieses Schaben und Kratzen vernahm.
Blitzschnell suchte sie hinter dem nächstgrößeren Grabstein Deckung.
Langsam bewegte sich die Grabplatte. Der Spalt öffnete sich, und eine hagere Gestalt in wehendem Cape entstieg der Gruft ...! Sie dehnte und streckte sich im gleißenden Licht des Mondes und schien diesem entgegenzuwachsen.
Madame kämpfte gegen ein immer stärker werdendes Schwächegefühl. Sie mußte alle erdenklichen Kräfte aufbieten, um nicht ohnmächtig zu werden. Plötzlich legte sich eine Hand schwer auf ihre zierliche Schulter. Lähmendes Entsetzen erfaßte ihren kleinen Körper, und sie glaubte, ihr letztes Stündlein habe geschlagen, als eine wohlbekannte Stimme ihr sanft in das Ohr raunte:
„Bitte nicht erschrecken, Gnädigste. Aber ich mußte Ihnen folgen, um zu sehen, was unbescholtene Damen nachts auf den Friedhof treibt. Gleichzeitig bedarf es wohl einer Entschuldigung meinerseits, denn auch ich sah mit eigenen Augen Unfaßliches!"
„Gott sei Dank, Sie sind es, Hochwürden! Aber schauen Sie nur, da ist der Unheimliche schon wieder! Was blitzt denn da in seiner Hand? Bestimmt ein Messer! Er will uns umbringen!"
„Beruhigen Sie sich, es ist nur eine silberne Vase."
„Was er damit wohl will? Da! Er geht direkt zum Grab meines Gottseligen!"
Beide folgten gebannt allen Bewegungen des Untoten, der sich emsig am anderen Grab zu schaffen machte.
„Meine Blumen, Hochwürden! Er nimmt tatsächlich die frischen Blumen, die ich heute aufs Grab gelegt habe", empörte sich Madame.
„Der Allmächtige stehe uns bei", murmelte der Geistliche und griff, wie um sich zu beruhigen, nach dem mit Weihwasser gefüllten Flachmann in seiner Soutane.
Der Unheimliche, nichts ahnend von den Nöten und Ängsten seiner heimlichen Beobachter, ging daran, die soeben gestohlenen Blumen liebevoll in der kostbaren Vase zu ordnen. Er steckte seine Nase tief in die Blüten, um den Duft zu inhalieren. Eine besonders schöne, leuchtende Blüte heftete er an den
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