Untitled
Aufschlag seines schwarzen Umhangs. Er stellte die vom Mondlicht beschienene Vase auf die Grabplatte und verschwand erneut in der Gruft.
Die beängstigende Atmosphäre schien sich etwas zu entspannen. Nach wenigen Augenblicken entstieg der Unheimliche mit einem Buch in der Hand dem Grab. Mit einem blütenweißen, übergroßen Taschentuch fegte er den Staub vom Marmor, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den gereinigten Teil und fing an, leise vor sich hinzumurmeln.
„Jetzt wissen wir, was Sie heute nachmittag gehört haben, meine Liebe. Wir haben es hier mit einem literaturbewanderten Vampir zu tun. Ein wahrhaft seltenes Exemplar!"
Hochwürden berührte seine Nachbarin zaghaft am Arm, doch diese grübelte ängstlich über den Inhalt des Buches, daß der Unheimliche tief versunken in den Händen hielt.
Plötzlich bemerkten beide, daß ein Schatten über den Kirchhof glitt. Scheinbar völlig unbeeindruckt blieb er vor dem murmelnden Vampir stehen.
„Da ist schon die Verstärkung", rief Madame um einige Nuancen zu laut. Blitzschnell legte Hochwürden eine Hand über ihren Mund, als beide auch schon eine ihnen wohlbekannte Stimme vernahmen:
„Einen wunderschönen guten Abend, lieber Herr von Grauenstein."
„Ach Doktor, wie reizend von Ihnen, mich gerade zu dieser schönen Stunde aufzusuchen", erwiderte der Vampir freudig. „Sagen Sie, ich will Sie keineswegs drängen, aber haben Sie zufällig an meine Rheumasalbe gedacht? Sie können es mir sicherlich nachempfinden, wenn ich Ihnen sage, daß es in meinem Domizil noch recht frisch ist, obwohl die Sonne sich tagsüber sehr anstrengt. Ihre Wärme aber bleibt noch ohne jegliche Tiefenwirkung."
„Selbstredend habe ich daran gedacht! Werde doch meinen alten Schachkumpan nicht unnütz leiden lassen. Gerade heute war
wieder einer dieser Pharmafritzen in meiner Praxis!"
Der Arzt kramte tief in seinen stets ausgebeulten Hosentaschen herum und förderte schließlich eine Riesentube Antirheumamittel zutage, die der Vampir dankend entgegennahm. „Wieviel Gipsbeine waren es an diesem Wochenende, Doktor?"
„Immerhin drei! Guter Schnitt!" Der Doktor schaute den Vampir zufrieden an.
„Sagen Sie, verehrter Freund, wären Sie zu einem Spielchen aufgelegt? Geben Sie mir die Möglichkeit der Revanche, schließlich haben Sie mich die letzten beiden Male erbärmlich geschlagen!"
„Das Vergnügen läge ganz auf meiner Seite, verehrter Doktor. Bitte machen Sie es sich bequem und gestatten Sie mir, alles Notwendige zwischenzeitlich zu richten. Ich darf Sie für ein paar Minuten verlassen. Genießen Sie derweil den schönen Mondenschein. Alles sieht so friedlich aus." Rasch stieg der Vampir in die Gruft hinab.
„Na, der hat Nerven", brummelte Madame ins priesterliche Ohr, „haben Sie dafür noch Worte, Hochwürden? Alles sieht so friedlich aus", äffte sie den letzten Satz des Vampirs nach.
„Die Sache fängt an, mir Spaß zu machen", erwiderte der Geistliche leise. Er gab sich jetzt um ein Vielfaches mutiger als zuvor, nachdem auch er die ersten Schrecksekunden unversehrt überstanden hatte.
„Auch mir wird jetzt so manches klar! Der Doktor, dieser Gauner, hilft auf seine Art und Weise der Verwitterung der alten Grabplatten nach. Die beiden betreiben einen schwunghaften Handel. Geradezu genial!"
„Wieso?" Madame verstand gar nichts mehr.
„Na, ganz einfach, der Doktor bringt dem Vampir eine heilsame Salbe gegen sein Rheuma mit, und dieser revanchiert sich dann, indem er mit den Platten wackelt, sofern ich mit genügend Touristen auf dem Kirchhof bin. Ich hielt das immer für irgendeine chemische Reaktion! So aber scheint der Aufwand geringer, und der Erfolg – sprich: die Ausbeute an Gipsbeinen – bleibt der gleiche."
Herr von Grauenstein entstieg soeben erneut seiner Gruft. In der einen Hand trug er einen kostbar verzierten Kasten, während er in der anderen zwei Flaschen balancierte: die eine formschön und schlank, die andere dagegen dickbäuchig und plump. Kasten und Flaschen stellte er vor dem Doktor ab, der es sich bereits auf dem Grabmal bequem gemacht hatte.
„Wenn Sie die Güte hätten, die Spielfiguren schon aufzustellen. Ich hole nur noch ein Glas für Sie und einen Trinkhalm für mich. Wünschen Sie etwas Eis zum Scotch?" Der Vampir war um das Wohlergehen seines späten Gastes sichtlich besorgt, doch der Doktor wehrte lachend ab. „Danke verbindlichst! Wegen seiner
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