Untitled
über den Haufen gerannt, die ihm mit beseeltem Lächeln ein schreiendes rotes Bündelchen entgegenhielt.
„Herzlichen Glückwunsch, Sie haben eine gesunde Tochter. Schauen Sie nur, wie süß sie ist."
Die Schwester war nahe an ihn herangetreten und musterte ihn ungeniert. Herr von Grauenstein wollte nicht unhöflich erscheinen, nahm das Neugeborene vorsichtig in seine Arme und beugte sich vor Rührung lächelnd darüber. Oh, welch ein Verhängnis! Durch seine in dieser Situation völlig unangebrachte Liebenswürdigkeit hatte er sich und das Baby in eine verheerende Lage gebracht. Nur der Bruchteil einer Sekunde war für die hübsche Schwester ausreichend, um zu erkennen, wen sie da soeben für den Vater des entzückenden Babys gehalten hatte. Sie erstarrte zu einer Salzsäule. Die Augen waren verdreht, die Arme baumelten schlaff an den Seiten herab. Sie schien offenbar nicht mehr in der Lage, dem Eindringling das Baby wieder zu entreißen. Der Edle erkannte sofort, daß sich die Situation zuspitzte. Und dann dieser nagende Hunger!
Mit dem Neugeborenen auf dem Arm rannte er davon. Der Winzling schrie wie am Spieß. Auch um sein Leben? Befürchtungen dieser Art hätte der Edle weit von sich gewiesen. Die Rührung, so unverhofft zu einer Tochter gekommen zu sein, stand ihm im Gesicht geschrieben, und er versuchte, den Säugling zu beruhigen.
„Du hast sicher auch nur Hunger, nicht wahr?" Dies schien ihm die plausibelste aller Erklärungen, während er weiterhastete.
In der Klinik war man derweil in hellster Aufregung. Alarm wurde gegeben. An einen Vampir als Übeltäter wollte allerdings so recht niemand glauben. Vielmehr dachten alle an eine Kindesentführung, handelte es sich schließlich um das Baby eines Millionärs. Das gesamte Personal startete zu einer Hausdurchsuchung. Die Ausgänge wurden bereits von Polizei, die aus dem Nachbardorf angefordert worden war, bewacht.
Es schien, als säße der Vampir rettungslos in der Falle. Jedoch, wie es stets bei guten Vampiren der Fall ist, hatte auch er Glück im Unglück!
Inzwischen befand er sich bereits in einem düsteren Gang. Die Stimmen der Verfolger klangen nur noch vereinzelt zu ihm durch. Das Baby hatte aufgehört zu schreien und nuckelte friedlich an seinen Fingerchen.
Angestrengt dachte der Edle nach. Wenn er nur wüßte, wo er dieses bezaubernde kleine Wesen sicher deponieren könnte, so wäre ihm um ein Vielfaches wohler.
Er war bis ganz an das Ende des Ganges gelangt, als ein großer Schrank seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Endlich war er am Ziel.
„BLUTKONSERVEN" stand in großen Lettern auf der Tür, und der Schlüssel steckte! Vor Aufregung schlug ihm das Herz bis zum Hals. Ganz vorsichtig ging er in die Hocke und bettete liebevoll den Säugling in seinen Schoß, um auf diese Art beide Hände frei zu haben. Dann öffnete er mit immer fahriger werdenden Handbewegungen die Tür.
Welch ein Anblick! Da standen sie, die dickbäuchigsten aller Flaschen, in Reih und Glied – und alle mit dem Frischedatum versehen. Keine war älter als maximal zwei Tage. Nicht so wie auf der Blutbank nebenan: Dort gab es die reinste Büchsenkost. Und als Edler von Grauenstein achtete er schließlich auf Qualität! Nicht, daß er es mit der Nouvelle Cuisine übertrieb, doch schließlich, wer kauft heute schon ausschließlich im Supermarkt?
Sorgfältig wählte er eine Flasche und wollte soeben den ersten Schluck nehmen – das Baby schaute ihn aus veilchenblauen Augen an –, als er schnelle Schritte hinter sich vernahm. Er drehte sich um und erkannte die hübsche Schwester von der Wöchnerinnenstation, der niemand Glauben schenken wollte, daß sie einem leibhaftigen Vampir gegenüber gestanden hatte. Dabei sah er doch wirklich aus wie Christopher Lee, jener Schauspieler, der es so brillant verstand, als Untoter im Film herumzugeistern. Sie, die alle Filme mit ihm gesehen hatte, glaubte zu wissen, wo sich ein Vampir im Krankenhaus am ehesten finden ließ.
Und sie sollte recht behalten. Nachdem sie bei der ersten Begegnung die Fassung verloren hatte, wirkte sie jetzt um so entschlossener. Schließlich hatte die unmittelbare Begegnung mit einem Vampir auch ihre sehr pikante Seite. Während sie näher und näher kam, fingerte sie nervös an dem hochgeschlossenen Schwesternkleid. Dann endlich stand sie vor ihm. Voller Erregung schaute sie auf den friedlichen Vampir, der das Baby behutsam auf seinem Schoß hin und her
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