Untot mit Biss
Tomas im »Verlies«, Mikes Spitzname für den Keller. Mit einem Tablett leerer Gläser watete er durch ein Meer aus schwarz gekleideten Körpern. Er sah wie immer zum Anbeißen aus, vorausgesetzt, man stand auf geschmeidige Muskeln, eine Haut wie Honig auf Sahne und rabenschwarzes Haar, das die Taille berührte, wenn er es nicht zusammensteckte. Sein Gesicht war eigentlich zu zerklüftet, um attraktiv zu wirken – es schien nur aus Kanten zu bestehen –, aber die Zartheit einiger Züge machte das wieder wett. Das Haar hing ihm nicht ins Gesicht, sondern bildete einen Zopf, ein sicheres Zeichen dafür, dass er arbeitete, denn am liebsten trug er es offen. Aber einige Strähnen hatten sich gelöst und wogten hin und her. Die Kleidung hatte Mike ausgewählt: ein schwarzes Seidenhemd im Spinnwebenmuster, das mehr zeigte als bedeckte, eine schwarze, hautenge Jeans und hohe schwarze Lederstiefel. Er sah aus, als sollte er in einem Striplokal auftreten, anstatt zu kellnern. Aber der exotische, Es-haut-dich-fast-vom-Hocker-Sexappeal törnte viele Gruftis an, und mir war er auch nicht unbedingt ein Dorn im Auge. Mike war vor etwa einem Jahr zu dem Schluss gelangt, dass es in Atlanta genug Country-and-Western-Bars gab, und deshalb hatte er seine Kneipe oben in eine progressive Oase und unten in einen Gruftitraum verwandelt. Einige ältere Herrschaften vor Ort hatten gebrummt und gemurrt, aber die Jugend war begeistert. Tomas schien zusammen mit dem Dekor für das neue Etablissement geplant worden zu sein, und es war auch und vor allem ihm zu verdanken, dass der Laden lief. Aber es störte mich ein wenig, dass er die halbe Nacht damit verbrachte, Anmache abzuwehren. Ich ging zumindest davon aus, dass er sich dagegen sträubte, denn er brachte nie jemanden mit nach Hause. Doch manchmal fragte ich mich, ob es angesichts seines Backgrounds wirklich klug von mir gewesen war, ihm ausgerechnet einen solchen Job zu verschaffen. Tomas sah viel besser aus als bei unserer ersten Begegnung, die in einem hiesigen Obdachlosenasyl stattgefunden hatte – sein leerer Blick war mir aus meiner eigenen Zeit auf der Straße vertraut gewesen. Lisa Porter, Verwalterin des Obdachlosenheims und seine selbst ernannte Glucke, stellte uns vor, als ich mal wieder als ehrenamtliche Helferin vorbeischaute. Wir kamen ins Gespräch, als wir gespendete Altkleidung zu drei Haufen sortierten: brauchbar, reparaturbedürftig und nur-noch-als-Putzlappen-zu-verwenden. Es war bezeichnend für Tomas’ Persönlichkeit, dass ich noch am gleichen Abend mit Mike über ihn sprach und er am nächsten Tag nach einem kurzen Vorstellungsgespräch eingestellt wurde. Mike meinte, er hätte nie einen besseren Angestellten gehabt: nie krank, keine Klagen und traumhaftes Aussehen. Beim letzten Punkt war ich nicht so sicher. Meiner Ansicht nach benötigte er einen Pickel oder eine Narbe, irgendeinen Makel auf der glatten goldenen Haut, damit er realer wirkte. Er ähnelte den Untoten mehr als die meisten Vampire, die ich kannte, und obendrein hatte er das gleiche sichere Auftreten. Aber er lebte, und solange ich mein total verhextes Selbst von ihm fernhielt, würde er vermutlich am Leben bleiben. »Hast du einen Moment Zeit, Tomas?«
Ich bezweifelte, dass er mich hörte, denn der DJ sorgte für fast schmerzhaft laute Musik, aber er nickte. Normalerweise wäre ich noch nicht da gewesen, und daraus schloss er, dass irgendetwas anlag. Wir bahnten uns einen Weg durch die Menge, was mir einen bitterbösen Blick von einer Frau mit violetten Rastalocken und schwarzem Lippenstift einbrachte – sie war sauer, weil ich ihr die Hauptattraktion nahm. Oder vielleicht hielt sie nichts von meinem Happy-Face-T-Shirt und den Ohrringen. Bei der Arbeit versuchte ich, dem Grufti-Outfit so nahe wie möglich zu kommen, ohne zu grässlich auszusehen – schwarze Sachen standen Rotblonden nicht besonders gut –, denn ich hatte schon nach kurzer Zeit festgestellt, dass man eine Wahrsagerin in Pastellfarben nicht besonders ernst nahm. Doch an meinen freien Tagen beanspruchte ich das Recht, nicht so auszusehen, als wollte ich zu einer Beerdigung gehen. Mein Leben war auch so schon deprimierend genug.
Wir traten hinter die Theke und gingen ins Hinterzimmer. Dort war es ruhiger, was bedeutete, dass wir uns verstehen konnten, wenn wir dicht beieinanderstanden und riefen. Doch der Lärm war weniger ein Problem, als Tomas ins Gesicht zu sehen und zu überlegen, was ich sagen sollte. Wie ich war er schon
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