Unvermeidlich
ich habe einfach die Nase voll. Ich war von Freitag auf Samstag bei einem Studienkollegen in Berlin. Steffen hatte noch einen Wohnungsschlüssel von mir.“
Alex ist nicht besser als ich. Auch er lässt sich immer wieder erfolgreich von ihm manipulieren.
„Und jetzt? Reicht aufräumen und putzen oder brauchst du neue Möbel?“
„Er hat den Schlüssel von innen stecken lassen und ich dachte zuerst, er wäre noch drinnen. Als niemand aufgemacht hat, habe ich dann überlegt, ob der Schlüsseldienst ausreicht oder ob ich die Polizei rufen muss. Aber ich kenne ja meinen Bruder, also habe ich erst mal nur die Tür öffnen lassen. Die Wohnung ist ziemlich verwüstet, doch er war nicht da. Offenbar hat er eine Party veranstaltet, wie mir auch meine Nachbarin bestätigt hat.“
„Wie schlimm ist es?“
„Schlimm genug, dass ich heute nicht mehr mit den Aufräumarbeiten anfange.“
„Dann komm auf einen Tee mit rein“, sage ich und suche in der Handtasche nach meinem Schlüsselbund.
„Ich will dich nicht aufhalten, Ela.“
„Tust du nicht. Ich bin sowieso zu aufgedreht, um einzuschlafen und morgen muss ich ausnahmsweise nicht früh raus.“
Interessiert betrachtet Alex die Fotos und selbstgemalten Bilder von Anna, die die gesamte Kühlschrankfront bedecken. Ich nehme einen pinken Haargummi von der Fensterbank, den meine Tochter dort liegengelassen hat, und nutze ihn, um meine blonde Mähne zu einem nachlässigen Zopf zusammenzufassen. Obwohl es mir gefällt, wie ich mit offenen Haaren aussehe, mag ich doch das Gefühl nicht, wenn sie mir ständig ins Gesicht fallen.
„Ist sie heute bei deinen Eltern?“, fragt er.
„Natürlich. Wo soll sie sonst sein?“ Die rhetorische Frage klingt unfreundlich, aber er versteht sie schon richtig.
„Wann hat Steffen sie zum letzten Mal gesehen?“
„Vor … lass mich überlegen … es dürfte 3 Monate her sein.“
Alex ist nicht überrascht.
„Ich vermisse die kleine Maus“, sagt er leise.
„Du bist hier jederzeit willkommen. Das weißt du. Anna liebt ihren Onkel Alex und freut sich jedes Mal wahnsinnig, dich zu sehen.“ Außerdem ist es gerade mal eine Woche her, dass die beiden sich gesehen haben.
„Sag nicht immer Onkel, wenn selbst Anna das nicht sagt.“ Neckend kneift er mir in die Hüfte. „Das macht mich noch älter, als ich ohnehin schon bin.“
„Aber du bist ihr Onkel. Was soll ich denn sonst sagen?“
„Alex, nur Alex, Ela.“ Er ist der einzige, der mich Ela nennt. Oder Kleine. Doch der Kosename widerstrebt mir in der letzten Zeit immer mehr.
„Würde es helfen, wenn ich heißer Onkel Alex sage? Natürlich nur in Annas Abwesenheit.“ Mit einem Zwinkern drücke ich ihm eine dampfende Tasse grünen Tee in die Hand und gehe an ihm vorbei auf meinen Minibalkon, der gleich an die Küche grenzt.
„Nur wenn du es auch meinst.“ Er lässt sich neben mir auf einen der beiden Klappstühle fallen und legt die Füße auf die Balkonbrüstung. Das Leuchten der Solarlaternen spendet noch genug Licht, um ihn sehen zu können.
Mit einem verlegenen Kichern hoffe ich, das Thema zu beenden. Dabei kichere ich generell nicht. Weil ich kein kleines Mädchen bin. Doch in seiner Gegenwart werde ich immer öfter unsicher.
Alex ist ein attraktiver Mann. Mit Mitte 30 ist er besser in Form als die meisten Mittzwanziger. Seine hellbraunen Haare sind gerade genug verwuschelt, um nicht gewollt zu wirken. Als Tierarzt ist er es gewohnt mit seinen Händen zu arbeiten und hat keine Scheu, sich schmutzig zu machen. Außerdem hat er die klarsten, blauen Augen, die ich je gesehen habe, und ein Lächeln, dass jeder Frau das Höschen auszieht.
Alex ist normal, im Gegensatz zu Steffen. Er führt ein geregeltes Leben, ist zuverlässig und hat gewisse Grundwerte, die sich in einem hohen Familiensinn widerspiegeln. Auch wenn er außer seinem Bruder keine Familie mehr hat. Bereits als Teenager habe ich für ihn geschwärmt, doch das war unschuldig und hatte überwiegend mit Bewunderung zu tun.
Mit Steffen war ich seit meinem 15. Lebensjahr zusammen. Kurz vor dem Abi bin ich mit Anna schwanger geworden. Obwohl wir uns beide für das Baby entschieden haben, hat es letztendlich unsere Beziehung zerstört und war für Steffen nur eine gute Ausrede, weiter abzudriften.
Alex war immer da. Er hat mich nie im Stich gelassen. Wo er konnte, hat er mich mit Anna unterstützt und das macht er heute immer noch. Er ist mehr Vaterfigur für meine Tochter, als Steffen es jemals sein
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