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Unverstanden

Unverstanden

Titel: Unverstanden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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Hände getrocknet hatte, auf Martin Schreibtisch. Das waren noch beschwingte Zeiten gewesen, die Cordwell-Zeiten - friedliche Zeiten. Das war, bevor die Deutschen kamen und von Martin verlangten, eine Assistentin einzustellen. Es war nicht mehr dasselbe, nachdem der alte Mann weg war.
    Vor Unique hatte er seinen Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand stehen gehabt, weit weg von den Toiletten (Unique hatte das bereits am ersten Tag geändert.) Der Blick dort drüben war besser, weil man durchs Fenster in die Fabrikhalle hinuntersehen konnte. So hatte man das Gefühl, Teil einer Gruppe zu sein. Manchmal hatte Martin den Blick aus seinen Büchern gehoben und sie alle an ihren Arbeitsplätzen stehen sehen und gedacht: »Ah, meine Kollegen.« Jetzt hielt er den Kopf lieber gesenkt, weil er befürchtete, Unique könnte seinen Blick missverstehen und schreien: »Denk nicht mal dran, Trottel. Dir fehlt der Wortschatz, um dieses Buch zu lesen!«
    Unique starrte ihn an. »Ich habe dich was gefragt, Trottel.«
    »Was?«, fragte Martin und wurde sich schmerzlich
bewusst, dass er sich daran gewöhnt hatte, mit »Trottel« angesprochen zu werden. Inzwischen betrachtete er das Schimpfwort schon beinahe als Namen.
    »Ich fragte, wo ist Sandy?«
    Martin schaute zum Fenster hinaus. Die Treppe, die hoch zum Management führte, war leer. Normalerweise kam Sandy vor Arbeitsbeginn herunter, um auf die Toilette zu gehen und ein paar Worte mit Unique zu wechseln. Es war komisch, dass sie nicht hier war, vor allem, weil die gestrige Folge von Let’s Dance besonders spannend gewesen war. Sogar die Juroren waren geschockt gewesen.
    Unique machte den Hals lang, um die Treppe hochzuschauen. »Wer ist denn das?«
    Martin dachte dasselbe. Auf der obersten Stufe sah er einen Fuß. Er steckte in einem Tennisschuh. Sein Blick folgte einer hautfarbenen Strumpfhose die Wade hoch bis zu einem knielangen Rock. Wem gehörte diese Wade? Einer Schönheitskönigin? Einer Ramschwarenvertreterin? Die Frau kam langsam die Treppe herab, und er musste an die wunderbare Passage aus »Der große Gatsby« denken, in der wir Mrs. Wilson zum ersten Mal begegnen: » Sie war Mitte dreißig und etwas füllig, gehörte aber zu jenen Frauen, die ihr üppiges Fleisch mit Sinnlichkeit zu tragen wissen.«

    » Oh-oh«, sagte Unique. »Das verheißt nichts Gutes.«
    » Ihr Gesicht … zeigte keinen Funken oder Schimmer von Schönheit, und doch strahlte sie eine sofort spürbare Vitalität aus, so als ob die Nerven in ihrem Körper unentwegt glühten.«
    » Was ist los mit dir, Trottel?«
    Martin merkte, dass er mit offenem Mund dastand.
    »Das ist die Polizei.«
    Sie sprach das Wort in drei getrennten Silben aus: Po-li-zei. Martin schaute sich die bis zur Decke gestapelten Kartons an allen Wänden an, als könnte er so einen Diebstahl entdecken. Bei Southern Toilet Supply war schon einmal eingebrochen worden. 1996, kurz vor der Olympiade, hatten Rowdys die Hintertür aufgebrochen und die ganze Fabrikhalle mit Klopapier eingewickelt. Martin hatte das Verbrechen als Erster entdeckt; er erinnerte sich noch gut an das Gefühl tiefster Demütigung, als er 2300 von den Maschinen zupfte. War es wieder passiert? Wer hatte es diesmal gewagt, über Southern Toilet Supply herzufallen? Was für ein Unhold hatte die Heiligkeit eines kleinen amerikanischen Unternehmens im Besitz eines multinationalen Konglomerats geschändet?
    Auf der Treppe sah er hinter der Frau einen
Mann, einen Grauschopf mit breiten Schultern, der wahrscheinlich Kölnisch Wasser benutzte und viel zwinkerte, um seine Pointen an den Mann zu bringen. Die Nachhut bildete Norton Shaw, dessen Gesicht verkniffen war wie eine verschrumpelte Pflaume.
    »Oh-oh«, wiederholte Unique. »Norton sieht nicht glücklich aus.«
    Martin stand mit geballten Fäusten da. Wer hatte diese einfache, kleine Firma angegriffen? Was hatten sie diesmal angestellt?
    Die Tür ging auf. Die Frau stand da, in Licht getaucht. Ihre blonden Haare waren zu stark dauergewellt, oder vielleicht hatte das Winterwetter den Spliss verursacht. Auf ihrem Gesicht waren winzige Flecken trockener Haut zu erkennen und etwas, was aussah wie die letzten Reste eines Pickels in der Furche hinter ihrem rechten Nasenflügel. Sie war älter, als Martin vermutet hatte, wahrscheinlich Ende vierzig, was sie irgendwie noch schöner machte (schon als Junge hatte Martin sich zu älteren Frauen hingezogen gefühlt). Sie hatte etwas an sich - eine Art innerer Schönheit,

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