Unverstanden
auch die Fäuste geballt, als sie in sein Büro gekommen waren - oder in das, was Martin als sein Büro betrachtete. Für An hatte es eher ausgesehen wie ein Pausenraum mit zwei Schreibtischen und Wänden aus Kartons voller Inkasso- und Außenstandsbelegen. Falls es irgendjemand komisch fand, dass die Buchhaltung sich praktisch neben den Toiletten befand, sagte jedenfalls keiner etwas.
Bruce öffnete die Tür und kam herein. »Fehlanzeige in seinem Haus.«
An hatte schon vermutet, dass die Durchsuchung des Reed-Hauses nichts bringen würde.
»Seine Mutter ist total verängstigt, sagt, dass er sich in letzter Zeit komisch verhalten hätte. Könnte sein, dass er wieder säuft.«
»Wieder?«
»Sie sagt, er redet nicht darüber. Versucht wohl gerade, von der Flasche wegzukommen.« Bruce zuckte die Achseln, viele Polizisten versuchten, von der Flasche wegzukommen. »Hat übrigens eine ziemliche Kodderschnauze, die Frau. Was die so vom Stapel lässt, da bin sogar ich rot geworden.«
Und das von einem Mann, der »verfickt« als normales Adjektiv benutzte. An konnte nichts dagegen sagen. Bei Gefangenen war sie auch ziemlich unverblümt, denn die reagierten eher auf Drohungen als auf Höflichkeiten.
Bruce fuhr fort: »Du solltest sein Zimmer sehen. Bücher von einer Wand zur anderen und noch mehr in Kartons in der Garage. Ich rede von Tausenden. Der Kerl muss die ganze Zeit lesen.«
An studierte Martin. Auf sie wirkte er nicht sehr intellektuell. »Was für Bücher?«
»Vorwiegend Thriller. James Patterson, Vince Flynn - solche Sachen.«
An konnte auch dagegen nichts sagen. Wenn eine Columbo-Folge lief, ging sie nicht einmal ans
Telefon. Wobei es nicht sehr oft klingelte, allerdings wurde sie dauernd von irgendwelchen Umfrage-Heinis belästigt, die ihre Meinung zu allem Möglichen wissen wollten. Wenn man mit diesen Leuten nur ein Mal redet, lassen sie einen nicht mehr in Ruhe. »Hat seine Mutter ihm für gestern Abend ein Alibi gegeben?«
»Sie sagt, er habe sie zu einer Erledigung gefahren, dann seien sie nach Hause zurückgekehrt, er sei noch einmal weg und sie habe ihn erst am nächsten Morgen wiedergesehen.«
An nickte und verarbeitete die Information. Durch den Spiegel sah sie, dass Martins Mund sich bewegte, er murmelte etwas vor sich hin.
»Was für ein Blödmann«, bemerkte Bruce.
An konnte ihm nicht widersprechen, aber war dieser Blödmann ein Mörder?
Bruce schien ihre Gedanken zu lesen. »Wir haben Reeds Blut vermischt mit dem des Opfers auf der Stoßstange und im Kofferraum gefunden.«
»Du hast seine Hände gesehen. Was er über die Schnitte sagte, würde das Blut erklären.«
»Wenn er unschuldig ist, warum hat er dann seine Aktentasche mit Säure abgewischt?«
»Vielleicht ist er heimtückischer als er aussieht«, gab sie zu.
»Er steht auf dich.«
»Also bitte.« Männer standen nicht auf Anther. Sie war auch kaum eine üppige Sirene.
»Aber das könntest du ausnutzen. Lass ihn glauben, dass er eine Chance hat. Der Kerl hat wahrscheinlich keine Möse mehr gesehen, seit er aus einer rausgeschlüpft ist.«
An reagierte nicht darauf. Sie war seit fast zwanzig Jahren Polizistin. Anfangs hatte sie prinzipiell jede sexistische Bemerkung und jeden schweinischen Witz ihrer meistens männlichen Kollegen kritisiert. Das hatte ihr jedoch nichts gebracht außer den Ruf, lesbisch zu sein. Als sie darauf beharrte, dass sie absolut nicht homosexuell sei, hatten sie ihr vorgeworfen, dass sie sich ihrer Sexualität schäme. Als sie darauf hingewiesen hatte, dass sie (damals noch) verheiratet sei, hatten sie nur traurig den Kopf geschüttelt, als wollten sie fragen, wie weit sie gehen wolle in der Verleugnung einer Liebe, die sie nicht zu bekennen wage. Im Lauf der Jahre war An so oft verleumdet worden, dass sie, um sich zu schützen - und eigentlich, um ihre Arbeit vernünftig tun zu können - angefangen hatte, den Münchhausen zu spielen.
Den Münchhausen spielen. Was für eine hübsche Umschreibung für lügen. An war keine Lügnerin von Natur aus. Ihr Vater hatte Lügen verabscheut und ihr sehr früh eingebläut, dass die Strafe
für eine Lüge schlimmer sei als die Strafe nach einer Beichte. Und doch erzählte sie jetzt nach Herzenslust Lügengeschichten. Und es war ihrem Herzen wirklich eine Lust, allerdings nur, wenn sie sich gehen ließ und ihren eigenen Lügen Glauben schenkte.
Und so war es passiert: Charlie, ihr Ehemann, war gestorben. Das war vor fünfzehn Jahren. Nun war zu Hause niemand
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