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Unverstanden

Unverstanden

Titel: Unverstanden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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kam, merkte sie, dass sie immer
allein gewesen war. Auch in ihrer Ehe mit Charlie hatte sie immer das Gefühl gehabt, dass sie nicht so recht zu ihm gehörte, dass er sie nicht so richtig sah, wenn sie ein Zimmer betrat oder eine Frage stellte.
    Aber nun war es anders. Das alles war an dem Tag vorbei, als An aus der Toilette kam und von ihren Kollegen als Gleichgestellte empfangen wurde. Wann war es passiert? Wann war aus Jill, die ja anfangs nur ein Produkt ihrer Fantasie gewesen war, ein lebender, atmender Teil von Ans Leben geworden? Als sie Papierschnipsel und Staubflusen aus ihrer Handtasche räumte, wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass Jill in ihrem Kopf zu einer realen, körperlichen Person werden könnte.
    Na ja, An musste zugeben, dass sie dieses Märchen anfangs ziemlich ausgenutzt hatte. Sie nahm sich frei mit der Ausrede, sie müsse Jill zur Chemotherapie begleiten, obwohl sie eigentlich nur Menstruationskrämpfe hatte und auf TBS ein John-Wayne-Marathon lief. Dann kam der Tag, als sie verschlief und eine wichtige Besprechung verpasste. Zu sagen, Jill sei es nach der Chemo ziemlich schlecht gegangen und sie habe sie zum Arzt fahren müssen, war nur eine kleine Notlüge gewesen. Was brachten diese blöden Besprechungen denn überhaupt? Sie waren Polizisten. Sie mussten
nicht in einem miefigen Besprechungszimmer zusammengepfercht werden und sich sagen lassen, dass sie die Bösen fangen sollten.
    Natürlich konnte man nicht bestreiten, dass es schon eine gigantische Lüge gewesen war, als An eine Woche in Florida Urlaub gemacht hatte mit der Ausrede, sie müsse mit Jill in die Mayo-Klinik fliegen, um dort einen weltbekannten Spezialisten aufzusuchen. Einige Kollegen bemerkten ihre Sonnenbräune, die An damit erklärte, dass sie während der Bestrahlungen bei Jill gesessen sei. Vielleicht war es aber auch gar keine so große Lüge mehr, denn zu der Zeit fühlte An bereits eine wirkliche Verbindung zu Jill. Der Gedanke an lesbischen Sex war zwar nicht besonders verlockend (oder überhaupt eine konkrete Vorstellung, denn was genau machten zwei Frauen eigentlich miteinander?), aber An gefiel das Konzept der Kameradschaft, der Verbindung zu einem anderen menschlichen Wesen.
    Kurz gesagt, sie verliebte sich.
    In den folgenden Monaten wurde aus dem Mythos Jill eine Realität. An arbeitetet bereits sei drei Jahren als Detective, aber bevor Jill auftauchte, hatte keiner sich die Mühe gemacht, mit ihr zu reden. Das Wissen, dass An eine kranke Geliebte hatte, machte sie für diese Männer irgendwie menschlicher.
Sie schloss Freundschaften - lebenslange Beziehungen. Einige Kollegen hatten Frauen, die Brustkrebs gehabt hatten. Sie gaben An Bücher zum Thema Überleben. Dann standen sie eines Tages alle um ihren Schreibtisch herum und gaben ihr eine Meldeliste. Tränen traten ihr in die Augen, als sie erkannte, dass die gesamte Truppe sich für den Avon-Brustkrebs-Marsch angemeldet hatte.
    In diesem Augenblick wusste sie, dass Jill sterben musste. Zu viel Wasser war bereits unter der Brücke hindurchgeflossen. An erzählte so viele Geschichten, dass sie den Überblick verlor. Das Schlimmste war, dass die Leute Jill kennenlernen wollten. Sie wollten diese starke Frau kennen, die dem Tod ins Gesicht gesehen hatte. Merkwürdigerweise war ihr an dem Tag, als sie in der Arbeit anrief, um ihrem Chef zu sagen, dass Jill verschieden sei (passenderweise war es genau der Tag, als es bei Macy’s die alljährliche Fünfzig-Prozent-Rabatt-Aktion gab), die Kehle so eng geworden, dass sie auflegen musste.
    Doch damit hatte es noch nicht aufgehört. Es kamen die Beileidskarten, auf die sie reagieren musste. Die Blumen. Natürlich gab es in derselben Bar, in der die Legende von Jill entstanden war, eine improvisierte Totenwache. Sie tranken auf Jill, die Krankenschwester, die Freundin, die Geliebte. Sie
sangen traurige Lieder und An erzählte ihnen Geschichten über Jill, wie sie einmal einen Obdachlosen aus einem brennenden Haus gerettet hatte, und wie sie jeden Morgen Zahnpasta auf Ans Bürste gedrückt hatte, sogar noch am Ende, als sie schon so schwach war, dass sie kaum mehr den Kopf heben konnte. Einmal habe sie sich überlegt, Jill zu betrügen - hatte sie ihnen das je erzählt? Nichts sei passiert, aber es sei für beide eine schwere Zeit gewesen, und am Ende habe sie das Gefühl gehabt, es habe sie beide stärker gemacht.
    Das Schlimmste war, dass An den Namen Jill ausgesucht hatte, weil sie gern Gillian Anderson in Akte X

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