Unverstanden
sah. Ihre dichten, roten Haare, das scharfe Kinn und die schmale Taille waren Attribute, die An selbst gern gehabt hätte. Inzwischen wusste sie, dass es ein großer Fehler gewesen war, Jill nach einer realen Person zu modellieren. Immer wenn An Anderson bei irgendeiner Gelegenheit im Fernsehen sah, bekam sie einen Kloß in der Kehle, als würde sie einen Geist aus einem glücklicheren Abschnitt ihres Lebens sehen.
»Hey«, sagte Bruce. »Ist da oben jemand zu Hause?« Er tippte sich an die Stirn.
An nickte. Sie starrten beide Martin an, der vor sich hin murmelte.
»Schwerer Tag für dich, was?«
Ann nickte noch einmal. Bruces Mutter war an Brustkrebs gestorben, als er noch ein Kind war. An diesem Morgen hatte er An Blumen geschenkt, weil es Jills fünfter Todestag war.
»Ihr hattet acht schöne Jahre miteinander«, erinnert Bruce sie. »Das ist mehr, als die meisten bekommen.«
»Ja.« An kämpfte gegen die Traurigkeit an, die die falschen Erinnerungen mit sich brachten. Wie Jill ihr das Abendessen machte. Wie Jill ihr ein Bad einlaufen ließ. (Man muss sagen, dass Jill in Ans Fantasien deutlich eine dienende Rolle hatte.)
»Ich bin für dich da, Baby.« Bruce klopfte ihr auf die Schulter. »Das weißt du doch, nicht?«
Seine Berührung war herzlich, und An dachte zurück an die verrückte Nacht vor acht Jahren, als sie in einem Augenblick der Schwäche Bruce Benedicts begrenztem Charme erlegen war. Sie arbeiteten sehr hart an einem Fall, und es war schlicht und ergreifend so, dass An die Berührung eines Mannes vermisste. Sie vermisste das Schroffe, das Herzliche, dass Gefühl, randvoll zu sein mit einem Mann, der wusste, was er tat. Es war ein schrecklicher, blöder Fehler gewesen, zu glauben, dass Bruce ein solcher Mann war (und sie waren übereingekommen, dass Jill es nie erfahren dürfe, es würde ihr das Herz brechen).
Bruce ließ die Hand sinken. »Ich weiß nicht, An, dieser Kerl ist einfach unheimlich. Wenn er das nicht getan hat, hat er etwas anderes getan.«
Sie nickte ein drittes Mal, froh, dass sie sich jetzt wieder auf Martin Reed konzentrierten. Dieser teigige Mann kannte sich mit den Gesetzen aus. Er weigerte sich, ohne Anwalt mit ihnen zu reden und bestand darauf, Aussagen nur dann zu unterschreiben, wenn er sie eigenhändig verfasst hatte. Was für ein Spiel spielte er eigentlich?
Bruce sagte: »Eins solltest du wissen: Ich habe im Auto keinen Zugriff auf ihn bekommen.«
Wahrscheinlich, weil Bruce gesehen hatte, dass das Fett an Martins Handgelenk, als er die Handschellen zudrückte, aussah wie Teig, der aus der Donut-Maschine bei Krispy Kreme quoll.
Ann kaute an ihren Nägeln. Sie dachte an Sandra Burke, wie man ihren zerquetschten Körper einfach in den Straßengraben geworfen hatte. Das Auto hatte die Frau beinahe pulverisiert. Die Reifen hatten ihr Gehirn zerquetscht und graue Substanz auf die Straße gespritzt.
Hinter ihnen summte die Gegensprechanlage. Bruce drückte auf den Knopf und fragte: »Ja?«
»Reeds Anwalt ist hier.«
»Bin gleich da.« Bruce öffnete bereits die Tür, doch An hielt ihn auf.
»Gib mir ein paar Minuten allein mit ihm«, sagte sie und nickte in Martins Richtung.
»Klar.«
»Hast du die Tatortfotos schon bekommen?«
»Sollten jeden Augenblick hier sein.«
»Bring sie mit dem Anwalt rein. Ich will mal sehen, ob ich was aus ihm herausbekomme.«
Bruce nickte und ging, hinter ihm schwang die Tür wieder zu. Es gehörte zu den Nachteilen, wenn man eine Lesbe spielte, dass die Männer einem nicht mehr die Tür aufhielten.
An fasste ihre Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen, als sie auf das Verhörzimmer zuging. In der Tür war eine schmale Glasscheibe, und sie sah, dass Martin noch immer am Tisch saß und die Fäuste ballte. Als sie das Zimmer betrat, stand er auf, als wären sie in einem Jane-Austen-Film. Sie erwartete, dass er etwas wie »Fürwahr« sagte, aber er stand nur mit geballten Fäusten da und starrte sie aus seinen dunkelgrünen Augen an.
»Bitte setzen Sie sich«, sagte sie und zog sich den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches heran. »Ihr Anwalt ist unterwegs.«
»Hat er Erfahrung?«
Die Frage überraschte An. »Das weiß ich nicht«, gab sie zu.
»Weil es oft passiert, dass Leute vom Gericht Anwälte zugewiesen bekommen, die keine Erfahrung haben«, sagte Martin. »Ich habe davon gelesen - Fälle, in denen Unschuldige faule Anwälte bekommen, die blind sind, wortwörtlich blind, im Sinn von, dass sie nicht sehen
Weitere Kostenlose Bücher