Unverstanden
mehr, für den sie kochen, waschen und bügeln konnte. Ein großer Fall war eben gelöst worden - ein Kindsmörder kam auf den elektrischen Stuhl. Man war in Feierlaune. An beschloss, in die Polizistenkneipe ums Eck zu gehen und mit ihren Kollegen in Blau ein paar Gläser zu trinken.
Alle betranken sich, aber An vertrug mehr als die anderen. Vielleicht aber auch nicht. Irgendwer machte sie an. Ein anderer meinte, das wäre vergebliche Liebesmüh. Ein dritter nannte sie eine Lesbe. Der nächste nannte sie frigide. Vielleicht war es das Wort »frigide«, denn so hatte Charlie sie genannt, als sie, aus irgendeinem verrückten Grund, keinen Sex haben wollte, nachdem er sie geschlagen hatte.
Egal, wie es genau passiert war, so wurde auf jeden Fall Jill geboren.
Jill war eine Krankenschwester, die mit Kindern
arbeitete. Sie war eine freundliche und fürsorgliche Frau. Jetzt hatte man bei ihr Brustkrebs festgestellt. Sie war die Liebe in Ans Leben. Sie starb. Alle hatten Mitleid mit ihr. Und alle hielten plötzlich den Mund.
Am nächsten Morgen wachte An mit entsetzlichen Kopfschmerzen auf. Als sie in die Arbeit kamen, waren alle still und respektvoll. Einige fragten, wie es Jill gehe. »Jill?«, hatte sie nachgefragt, und dann war sie ihr wieder eingefallen, die alkoholisierte Münchhausiade vom vergangenen Abend. Sie hatte den Kopf gesenkt, gemurmelt: »Ich will eigentlich nicht darüber reden«, und war dann in die Damentoilette gerannt, wo sie ihre Handtasche ausputzte, sich die Nägel feilte und ein kurzes Nickerchen hielt. Als sie schließlich wieder herauskam, empfingen ihre neuen Freunde sie mit besorgten Blicken und »Kopf hoch«-Aufmunterungen.
Zu einer Gruppe zu gehören war ein völlig neues Gefühl für An. Nicht dass sie nie Freunde gehabt hätte, aber als Tochter niederländischer Immigranten hatte sie nirgendwo richtig dazugepasst. Im Sommer, wenn die meisten Mädchen ins Ferienlager fuhren, besuchte sie die Verwandtschaft in Hindeloopen, schlenderte durch die schmalen Straßen und über die Holzbrücken ihrer seefahrenden
Ahnen, und passte mit ihrem breiten Südstaatenakzent auch dort nicht so recht dazu. Ihren Eltern erging es nicht besser. Wie viele Immigranten vor ihnen waren auch sie nach Amerika gekommen, um hier ein besseres Leben zu finden. Und wie bei diesen früheren Immigranten war das Leben, das sie sich hier schufen, im Wesentlichen dasselbe wie das alte zu Hause, nur eben in einem anderen Land. Sie gingen zu Festen der Niederländisch-Amerikanischen Gesellschaft. Sie tranken Heineken und lutschten Honingdrop -Bonbons, die die Verwandten zu Hause ihnen schickten. Die meisten ihrer Freunde waren kinderlose, niederländische Auswanderer, bis auf ein paar verschlagene Norweger, die bei Festen meistens in der Ecke standen und nur miteinander Norwegisch redeten.
Wenn man das Haus der Albadas betrat, würde man nie vermuten, dass man sich noch immer im amerikanischen Süden befand. Ans Mutter war Kunstlehrerin, der es ein Herzensanliegen war, Form und Funktion in Einklang zu bringen. Jedes Zimmer war farbenfroh in leuchtenden Rot-, Gelb- und Grüntönen dekoriert. Das Esszimmer war beherzt blau gestreift. Es gab Schränke, die sie von zu Hause mitgebracht hatten, mit Blumenund Schnörkelschnitzereien auf jedem Quadratzentimeter
Holz und angemalt in Komplementärfarben. An Halloween zog ihre Mutter ihr c hintzwentke an und - rein als Zugeständnis für ihre ignoranten Kunstschüler - das Paar Holzschuhe, das sie an einem Souvenirstand am Schiphol Airport gekauft hatte.
Ihr Vater war überqualifiziert, wie es bei Niederländern so üblich war, und bestand darauf, dass seine Tochter sich an ihm ein Beispiel nahm. Wenn An nicht lernte, arbeitete sie an freiwilligen Projekten, die ihre Noten noch besser machten, oder half ihrem Vater in seinem Labor (Eduart Albada war Botaniker im Dienst des Staates Georgia). Im Hinterhof hatte er eine kleine Hütte - ihre Mutter nannte sie likhus, nach den kleinen Häusern in Hindeloopen, in denen die Familien der Schiffskapitäne wohnten -, und an den Wochenenden schaute An ihm stundenlang dabei zu, wie er mit seinen ruhigen, kantigen Händen verschiedene Pflanzen kreuzte, um eine Tulpe zu kreieren, die dem launischen Klima des Südens besser standhielt.
Und so kam es, dass An als sehr geliebtes, einziges Kind ohne viele Freunde in ihrem Alter aufwuchs. Sie war nie besonders einsam gewesen, oder zumindest dachte sie, sie sei nie einsam, doch als Jill in ihr Leben
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