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Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)

Titel: Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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zurück und bleibt sachlich. Während wir singen, schreit er vor lauter Staunen, denn er macht sich schon mit den Geschenken vertraut.
    Heute vor einem Jahr sind die Russen einmarschiert. In diesem Jahr habe ich viel gelernt. Ein Jahr russische Besatzung ist eine Lehre für den Einzelnen und die Nation. Doch ich nehme auch an mir selbst nicht wahr, dass wir irgendetwas besonders Bedeutsames gelernt hätten.
    Die Russen nähern sich der Welt auf andere Weise, nicht durch den Bolschewismus. Sie nähern sich der Welt mit der Überzeugung, dass sie Slawen sind, und sie haben Sendungsbewusstsein. Aber sie müssen noch einen weiten Weg zurücklegen.
    Ist es jetzt »besser« als vor einem Jahr? Es ist anders. Nicht besser, anders. Vor einem Jahr bebte das Land äußerlich … jetzt bebt es im Innern. Doch eines Tages wird sich alles ausgleichen und beruhigen.
    Nur dieser schlechte Nachgeschmack, dieser unruhige Ekel, wenn ich dieses Wort ausspreche: Heimat. Wenn mir jemand diesen Ekel nehmen könnte.
    Ein altes kleines Büchlein aus dem Jahre 1787. Auf dem Titelblatt der Name des Autors und darunter seine Profession: »Der Weltweisheit Magister«. Das war seine Profession. Das Büchlein Deutsch-lateinisch Fibel , und natürlich weiß er alles, mit naiv-hochtrabender Überlegenheit, was man über die Dinge der Welt so wissen kann. Die Hirsche werden von ihm zum Beispiel so definiert: »Die Hirsche wundern sich ständig.«
    Julianus’ Brief aus Antiochia an seinen Onkel Julius berichtet, dass man sich durch Angriffe niemals kränken lassen darf. Ein guter Brief; der ihn schrieb, ist mit Seneca aufgewachsen.
    Dieser Mensch, der versucht hat, auf den Altarruinen des frühen Christentums die Bilder der heidnischen Götter aufzustellen, ist in der Weltgeschichte nicht allein. Ein solcher Versuch wiederholt sich immer und immer wieder. In den Zwanzigerjahren in Mexiko, dann in München. Es ist kein Zufall, dass mir jetzt, da ich in den Beleidigten die Sportpalast-Szene schreibe, dieses Buch wieder in die Hände fiel. Es gibt solche magischen Zusammenhänge, Zufälligkeiten, das habe ich schon öfter erfahren.
    Laue Weihnachten, frühlingshaftes Wetter. Gärende, dampfende Felder. Am Flussufer mein mehrere Kilometer langer täglicher Spaziergang. Große Unruhe. Und dann wird alles klar und rein.
    Über die Feiertage wurde uns ein heimatloser kleiner Dackel geliehen; trotz seiner Unförmigkeit ist er ein graziöser kleiner Flohbeutel. » Comme bossu tu es magnifique « , sagte der Pfarrer von Herriot zu einem Buckligen.
    Das Fest ist vorüber, und L. und ich stellen fest, dass es schön gewesen ist: Wir haben zwar keine Wohnung, keine Kinder, dennoch war alles so, als wäre es echt gewesen. In dieser geliehenen Wohnung mit Leihkind, Leihhund lief alles so ab, wie man es sich vorstellt; es gab Klingeling und Stille Nacht , Mohnstrudel und Truthahn. Das Leben hat Methode.
    Den Truthahn haben wir in unserer Kindheit verachtet, betrachteten ihn als eine Art Elternfraß. Jetzt habe ich ihn voller Begeisterung genossen: Anscheinend gehöre ich auch schon zu den Eltern.
    In der Nacht Babits . Was brodelt dieser quakende Sumpf, wenn man Babits’ Namen ausspricht? Man darf es gar nicht hören. Wir dürfen nur dieses gotische, knöcherne, bekennende, auf den Scheiterhaufen steigende katholische Klingen hören, wenn sein Name ausgesprochen wird.
    In Pest, in der Nagymezöstraße, in einer Kirche. Das Jahr ist zu Ende. Ich stehe im Dämmerlicht und denke: Was mit mir jetzt geschieht, ist eine sehr bedeutende Sache. Mehr sogar, es ist gefährlicher, vollkommener und fataler, als es der Krieg war, die Belagerung und jetzt die Besatzung mit all ihren abscheulichen Gefahren, mit ihrem zähen und klebrigen Sumpf voller Laichkraut … Es ist eine große Sache, die mit mir geschieht. Ich bin sechsundvierzig Jahre alt. Was kann ich tun? Nur, dass ich sehr aufmerksam bin, auf mich achte und auf alles um mich her. Ich kenne, weiß alles über mich und auch darüber, was passiert. Ich muss achtgeben. Wenn ich dieser unmöglichen Lebenssituation, in der ich mich befinde, nicht überdrüssig werde und genügend Kraft und Geduld habe, um alles zu ertragen, was sich in mir und um mich abspielt, dann wird mein Leben zwangsläufig vollkommener, abgeschlossener, runder. So viel verstehe ich von dem Ganzen. Amen.
    Die deutschsprachigen Schwaben werden ausgesiedelt wie letztes Jahr die Juden, man vertreibt sie, wie das Rindvieh getrieben wird, herdenweise,

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