Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Bedrohtseins durchdrungen und zur Maschinenzivilisation erstarrt ist. Es ist möglich, dass die Russen sich jetzt so auffällig für die Uhren interessieren, weil sie im letzten Vierteljahrhundert das erste Mal in diese Maschinenzivilisation hineingeschnuppert haben, und deshalb ist für sie die Zeit jetzt wichtig und auch jener Mechanismus, der die Zeit misst? Eine rechte Antwort darauf weiß ich nicht.
Die Deutschen haben das nicht unangemessene Angebot der Russen abgelehnt, und der Beschuss Budapests erfolgt jetzt schon Tag und Nacht; damit die russischen Truppen erst zwei Monate später Pressburg oder Wien erreichen, hat die deutsche Heeresführung Budapest geopfert; und alles wird zerstört, was Generationen von Ungarn aufgebaut haben, alles, was Teil meines Lebens war; meine Familie sitzt in den Kellern, die Stadt wird bald in Schutt liegen. Deshalb gibt es für die Deutschen kein Pardon und keine Gnade mehr. Die Ungarn dürfen dieses Volk verteufeln, solange es Ungarn gibt.
Wir leben in einer Art gesetzlosem Zustand: Die Russen haben uns besetzt, doch vorerst kümmern sie sich nicht um diesen Uferabschnitt; manchmal kommt eine Patrouille vorbei, die Waffen einsammelt, die Uniformierten zusammentreibt, dann ist wieder tagelang kein Russe zu sehen; mit der provisorischen Regierung in Debrecen konnte dieser Landstrich noch nicht in Kontakt kommen; es gibt keine Behörde, keine Gendarmerie, kein Amt, nichts. Der improvisierte Gemeinderat bemüht sich, für die Bevölkerung irgendwie Brot backen zu lassen; sonst tiefe Stille; die Menschen lungern herum, streunen durch die Gassen, in der Kirche sind viele, zu essen gibt es nichts, und für Geld bekommt man auch nichts. Es ist bereits ungarisches Notgeld aufgetaucht, das von der Roten Armee in Umlauf gebracht wurde; Kossuth-Bankós , sagen die Leute schmunzelnd. Das Leben von no man’s land -Menschen ist das hier; ein Schwebezustand zwischen Himmel und Erde; und wir hören das Dröhnen, das buchstäblich ein Dröhnen der »Mühlen in der Hölle« ist; und diese höllische Mühle zermalmt jetzt Budapest.
Seit Tagen schlafe ich nicht mehr.
Am ersten Tag des neuen Jahres ein Spaziergang am Flussufer. Dreißig Kilometer weiter zerbröseln Pest und Buda im Artilleriefeuer; hier herrscht vollkommene Stille, und die Januarsonne scheint; die Jugend von Pócsmegyer läuft unbeschwert Schlittschuh auf dem zugefrorenen Randstreifen der Donau. Das Ereignis des Tages ist das plötzliche Erscheinen eines Frachtkahns, der mit den großen Eisschollen gemächlich die Donau heruntertreibt; er hat sich wohl irgendwo bei Esztergom losgerissen, und der Fluss bringt ihn langsam bis zu uns. Der große schwarze Schiffskörper zwischen den graugrünen Eisschollen ist ein gespenstischer Anblick; alles hat sich befreit und selbstständig gemacht; unternehmungslustige Jungen durchstöbern den Kahn, sie finden Kisten und die Leiche eines ungarischen Soldaten; die Dorfleute hoffen, dass sich vielleicht auch Getreide tief im Bauch des Kahns befindet. Robinson hat so gelebt.
Und dennoch spüre ich an diesem Tag zum ersten Mal, dass wir uns vielleicht – zu einem ungeheuren Preis zwar – langsam aus diesem Höllentunnel hinausbegeben; als würde es irgendwo in weiter Ferne dämmern. Die Regierung in Debrecen , die Deutschland den Krieg erklärt hat, wurde von allen ausländischen Mächten anerkannt; die Siebenbürgen-Frage wird aber bis zu den Friedensverhandlungen nicht angesprochen; es könnte sein, dass auf den Ruinen von Budapest und unseres ganzen früheren Lebens irgendeine Art Staat von diesem Ungarn übrig bleibt. Aus diesem Staat eine Nation zu schaffen, das wäre die Aufgabe. Eine Nation, die nicht das Lehen und Jagdgebiet einer Kommanditgesellschaft ist, sondern das Zuhause von Menschen, die mit Qualitätsanspruch arbeiten und über ein moralisches Selbstbewusstsein verfügen. Doch wer soll das hier schaffen?
Ich vertraue X und hoffe auf Y, doch vertraue ich nicht mehr auf das Material der ungarischen Gesellschaft. Dieses Material ist schlaff. Wer es auch immer bearbeitet, es bleibt weich, schleißt, zerbröckelt.
Und alles wird immer von außen erwartet; gestern von den Deutschen, heute von den Russen, morgen von den Amerikanern. Eine Nation kann nicht mithilfe von außen geschaffen werden; sondern nur aus sich selbst heraus.
Seit zehn Tagen gibt es kein Licht. Ach ja, es gibt auch keine Kerzen und kein Petroleum. Die Kerzen, die uns noch geblieben sind, zünden wir nur für
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