Unzeitgemäße Gedanken: Tagebücher 2 (German Edition)
Ausgestoßenheit und Einsamkeit gut. Warum erhoffst du dir Stille, Wärme, Sauberkeit, Licht? Sind doch Finsternis, Kälte, eisiger Sturm, Gefahr durch Räuber gerade recht, eines Menschen würdig, man muss sie ertragen mit zusammengebissenen Zähnen, schaudernd und dennoch mutig, bis an die Knochen durchgefroren in dieser schrecklichen Einsamkeit und kalten Ausgestoßenheit, und dennoch mit dem festen Entschluss, stärker zu sein als alles, was das Leben noch bereit hält, du kümmerst dich um deine Arbeit, um das Zusammenspiel von Geist und endokrinen Drüsen, ohne Sentimentalität, wie ein Mensch, also mal traurig und hoffnungslos, dann aber doch entschlossen und unerschütterlich.
Was jetzt ist, das ist noch nicht das Alter; nur eben die Jugend ist es auch nicht mehr. Nicht »der Anfang vom Ende, sondern das Ende vom Anfang«, wie Churchill gesagt hat; ich habe noch sieben gute Jahre vor mir; mit dreiundfünfzig beginnt die völlige Veränderung des Lebensrhythmus, das Altern, und dann erst, nach weiteren sieben Jahren, mit sechzig, beginnt das Alter. Sieben Jahre noch Leben!
Das neue Buch von Lin Yutang , die Fortsetzung von A Moment in Peking . Es ist bescheiden, ein wenig feuilletonistisch, weniger lyrisch, doch irgendwie von Grund auf klug, es hält Maß; ist fast Literatur; es steckt keine Vision darin, aber viel Erfahrung, und es hält instinktiv Maß. »Wenn ein Mann in der Gesellschaft einer Frau nicht denkt, nur fühlt, dann ist er vielleicht verliebt«, schreibt er wie La Rochefoucauld. Mit solchen europäischen Gemeinplätzen kann man dicke Romane füllen, auch auf Chinesisch. Und trotzdem ist er ein Schriftsteller. Er schreibt nicht mehr Chinesisch, nicht wie Li Tai-peh und die anderen, die Großen, die Besonderen, die Einzigartigen. Dieser chinesische Schriftsteller hat sich auch im Innern wie ein Europäer ausgestattet; in seiner Seele gibt es viel amerikanische Konfektionsware.
Man muss nicht nur nach außen schweigen. Auch nach innen, auch mit seinen Gefühlen. Das ist nicht leicht.
»Der letzte Tag des Jahres.« Ein fruchtloses Jahr. Tief auf dem Grund bittere Enttäuschung: Das Menschenmaterial der Ungarn ist erbärmlicher, als ich es mir vorgestellt habe. Die ungarische Gesellschaft wird nicht zugrunde gehen, doch es bedarf der Arbeit vieler Generationen, bis das korrigierende Selbstbewusstsein, das Bildung verleiht, bis zu einem gewissen Grad wieder in ihr Leben einkehrt.
In diesem Jahr haben mir nur die Gedichte geholfen; und ein Augenblick in einem Kaffeehaus; und manchmal die Natur, die großen, ausgiebigen Spaziergänge im Wald, am Fluss. Und manchmal der Wein.
Jetzt muss ich schweigen, bis dieser blubbernde, schlammige Sumpf zur Ruhe kommt, die Gewalt sich erschöpft. Schweigen und Beobachten. Eine interessante Aufgabe; aufregend fast.
31. Dezember 1945. [Eigenhändiger Eintrag mit blauer Tinte.]
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